02 Jesses Maria: Wechseljahre
würden und dass die Mutter die Mädchen um elf Uhr alle mit dem Auto nach Hause bringen wollte. Wir hatten kein Auto.
Elf Uhr kam natürlich nicht in Frage: „Mitten in der Nacht! Soweit kommt das noch. Halb zehn ist Zapfenstreich!“ befahl meine Mutter und dass meine Hose um viertel vor zehn kalt am Bett hängen solle, sonst setze es was.
Ich nickte und sagte erst mal nichts. Hauptsache, ich durfte weg. Dass ich um halb zehn die Erste sein würde, die gehen muss, und dass ich Frau Neumann nicht fragen konnte, ob sie mich als einzige so früh heimfahren konnte und dass ich deswegen die vier Kilometer nach Hause zu Fuß gehen müsste und somit schon um neun hätte aufbrechen müssen, interessierte meine Mutter nicht.
Ich musste mich im Wohnzimmer vorstellen, bevor ich ging.
Meine Mutter wollte sicherstellen, dass ich nicht wie ein Flittchen aussah. Labello war erlaubt. Schminken war verboten. Meine Spucktusche hatte ich in meiner Handtasche versteckt. Das war eine kleine Dose mit einem gepressten Block Wimperntusche, auf den man spucken musste, bevor man ihn benutzen konnte. Es gab einen winzigen Spiegel im Deckel und eine Bürste, die sah wie eine ganz kleine Zahnbürste aus.
Ich hatte die Spucktusche mit Heike Stühmeier beiSeifen-Puls geklaut und hütete sie wie einen Schatz. Ich benutzte sie immer erst, wenn ich um die Ecke war, und bevor ich nach Hause kam, wischte ich alles mit Spucke und einem Taschentuch wieder ab.
Manchmal vergaß ich das, dann gab es Ärger. „Wie Frankensteins Tochter siehst du aus!“ oder „Willste inner Geisterbahn auftreten oder warum schmierste dir die Klüsen so an?“
Mutter war wirklich streng. Genutzt hat das aber nix.
Bevor ich zu der Fete bei Olli ging, guckte sie nach, ob ich ein Unterhemd anhatte. Ich hatte.
Ich hasste diese Frottee-Dinger, die ich als Garnitur mit passendem Schlüpfer stapelweise von Tante Lisbeth zur Konfirmation bekommen hatte. Besonders die Buxen waren mir viel zu groß, „damit ich noch reinwachsen“ konnte. Mutter hatte mir neue Gummis in die Unterhosen gezogen. Es gab einen Knoten in dem Gummi, um es bei Bedarf weitermachen zu können.
Bis zur Straßenecke trug ich zum Frotteeschlüpfer mit Margeritenmuster das passende Leibchen. Ich beherrschte aber eine besondere Technik: Ich konnte mir das Hemd ausziehen, ohne den Anorak aufzumachen. Das Unterhemd steckte ich dann in die Jackentasche und schob meine Bluse ein bisschen hoch, ein bisschen mehr, ja, bis man den Bauch sehen konnte.
Ich muss immer lachen, wenn die jungen Dinger heutzutage mit Hüfthosen und bauchfrei rumlaufen und sich supermodern fühlen. Das haben wir vor dreißig Jahren erfunden, das ist nicht neu!
Ich trug, als ich zu Olli‘s Party ging, eine todschickeRundhose, die den Reißverschluss hinten hatte. Warum ich mich daran so genau erinnere, erzähl ich später. Meine orange Bluse hatte weite Ärmel, ein modisches Muster aus grünen Schmetterlingen und wurde am Ausschnitt geschnürt.
Ich ging zu Fuß zu Olli, obwohl ich von Mutter Geld für den Bus bekommen hatte. Ich holte für eine Mark am Automaten bei Bäcker Klimke eine Schachtel Güldenring Zigaretten.
Der Beatkeller bei Neumanns war beeindruckend.
Dunkle Wände aus echtem Holz, es gab einen hohen Tresen und Barhocker mit Kuhfellbezug, es sah aus wie in einer richtigen Wirtschaft. Ein riesiges Wagenrad mit einem Strohblumenstrauß nahm eine halbe Wand ein, und über dem Tisch an der Eckbank hing eine Kupferlampe mit Herforder-Pils-Reklame.
Hinter dem Tresen standen auf einem imposanten Regal etliche Bierkrüge und Zinnbecher. Poster waren mit Tesa an allen Wänden festgemacht, ich erinnere mich an Bilder von Sweet und Slade, an die Rubettes und die Stones. Die Beleuchtung war schummrig, ein paar Tropf-Kerzen brannten in bauchigen Korbflaschen, das Wachs hatte bizarre Gebilde auf den Flaschen hinterlassen. Eine Lichtorgel tauchte den Raum abwechselnd in gelbes, rotes und blaues Licht.
Olli‘s Freund Ralli saß hinter der Stereoanlage: Neumanns hatten einen supermodernen Stereoturm (im Keller!) und daneben einen Zehnerwechsler.
Es waren etwa zwanzig Leute da, die meisten kannte ich aus der Schule. Olli drückte mir einen Coko in dieHand: Cola mit Korn. Das schmeckte mir besser als die Rum-Cola und der Mariacron, den ich danach trank.
Wir tanzten zu Fernando von Abba, Moviestar von Harpo und Daddy Cool von Boney M. Geredet wurde nicht viel, dazu war es auch viel zu laut.
Irgendwann kam Ollis Mutter runter,
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