02 - Keiner werfe den ersten Stein
wieder einen Spion auf einem wichtigen Regierungsposten entdeckt hätte. Da Geoffrey Rintoul tot war, konnte er im Verteidigungsministerium keinen weiteren Schaden anrichten. Nur dem Premierminister selbst hätte er noch schaden können, wenn seine Aktivitäten publik geworden wären. Also verhinderte man das. Und jetzt möchte man unbedingt verhindern, daß das ehemalige Vertuschungsmanöver aufgedeckt wird. Oder vielleicht schuldet man der Familie Rintoul auch etwas -« Barbara brach ab. So häufig sie mit Lynley im Kampf lag, sooft erbitterte Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen standen, sie brachte es nicht über sich, die letzte Konsequenz auszusprechen.
Lynley selbst sprach sie aus. »Und mir haben sie den Schwarzen Peter zugeschoben«, sagte er dumpf. »Und Webberly wußte es. Von Anfang an.«
Die Bitterkeit hinter seinen Worten verriet Barbara, was er dachte - daß diese Situation bewies, daß er für seine Vorgesetzten nicht mehr war als eine Schachfigur, auf die man leicht verzichten konnte; daß niemandem viel verlorenging, wenn er entlassen werden mußte, falls dieses Vertuschungsmanöver, das man ihm ohne sein Wissen untergejubelt hatte, ans Licht kommen sollte. Barbara wußte, wie sehr diese Vorstellung seinen Stolz kränkte.
In den vergangenen Monaten hatte sie ihn allmählich verstehen gelernt. Aber nie zuvor hatte sie wahrgenommen, daß seine Herkunft ihm oft eine Bürde war, die er mit Würde trug, selbst in den Momenten, wo ihn am stärksten danach verlangte, sie abzuwerfen.
»Woher hat Joy Sinclair von all dem gewußt?« fragte Lynley schließlich mit starrer Miene.
»Das hat Lord Stinhurst Ihnen doch selbst gesagt. Sie war an dem Abend, an dem Geoffrey umkam, auf Westerbrae.«
»Und mir ist nicht einmal aufgefallen, daß in Joy Sinclairs Arbeitszimmer nicht die kleinste Notiz über ihr Stück zu finden war.« Lynleys Stimme war voller Selbstvorwurf. »Da habe ich wirklich großartige Arbeit geleistet«, sagte er mit bitterer Ironie.
»Die Herren vom MI5 hinterlassen keine Visitenkarten, wenn sie ein Haus durchsucht haben, Tommy«, sagte St. James. »Es gab keinerlei Spuren einer Durchsuchung. Du konntest nicht wissen, daß sie dagewesen waren. Und außerdem warst du ja nicht hingegangen, um dich über das Theaterstück zu informieren.«
»Trotzdem - ich hätte nicht so blind sein dürfen.« Mit einem trüben Lächeln sah er Barbara an. »Gute Arbeit, Sergeant. Weiß der Himmel, was aus mir werden würde, wenn ich Sie nicht hätte.«
Lynleys Lob machte Barbara kaum Freude. Nie war sie so unglücklich darüber gewesen, recht behalten zu haben.
»Was sollen wir -?« Sie zögerte. Sie wollte ihm nicht noch weiter vorgreifen.
Lynley stand auf. »Morgen nehmen wir uns Stinhurst vor«, sagte er. »Jetzt möchte ich erst einmal in Ruhe darüber nachdenken, was zu tun ist.«
Barbara wußte, was er meinte: Er wollte sich überlegen, was er angesichts der Erkenntnis, daß er von seinen Vorgesetzten mißbraucht worden war, unternehmen wollte. Sie hätte ihm gern etwas gesagt, um den Schlag zu dämpfen. Sie hätte gern gesagt, daß der Plan, ihn aufs Glatteis zu führen, ja mißlungen war; daß sie sich den Drahtziehern überlegen gezeigt hatten. Aber sie wußte, daß er zu aufrichtig war, um nicht die ganze Wahrheit zu sehen. Sie hatte sich überlegen gezeigt. Sie hatte ihn vor seiner eigenen Blindheit gerettet.
Es gab nichts mehr zu sagen. Und dennoch standen Worte im Raum, die ausgesprochen werden mußten. Lynley trug die Karaffe zum Barschrank, stellte die Gläser auf ein Tablett und schaltete das Licht im Zimmer aus. Erst dann folgte er den anderen ins Vestibül.
Helen stand im Licht an der Tür. Sie hatte die ganze Zeit kaum ein Wort gesprochen, und als er jetzt hinzutrat, sagte sie beinahe zaghaft: »Tommy ...«
»Morgen früh um neun im Theater, Sergeant«, sagte Lynley abrupt. »Bringen Sie einen Constable mit, der Stinhurst in Gewahrsam nehmen kann.«
Hätte Barbara nicht schon erkannt gehabt, wie belanglos ihr eigener Triumph in diesem Spiel war, so hätte dieser kurze Wortwechsel es ihr deutlich gezeigt. Sie sah, wie sich die Kluft zwischen Lynley und Helen Clyde vergrößerte, und spürte, daß sie unüberbrückbar zu werden drohte. »Ja, Sir«, sagte sie nur und zog die Tür auf.
»Tommy, du kannst mich nicht weiter einfach ignorieren«, sagte Helen.
Zum ersten Mal, seit St. James im Wohnzimmer zu sprechen begonnen hatte, sah er sie an. »Ich habe ihm unrecht getan, Helen.
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