02 - Keiner werfe den ersten Stein
zwanzig Minuten gut herumbringen, meinst du nicht?« hörte sie sich flüstern.
»Nein!« schrie er. »Nein, Helen. Tu das -«
Sie legte auf.
Mit gesenktem Kopf blieb sie stehen und versuchte, ihre Fassung wiederzufinden. Jetzt telefonierte er schon mit New Scotland Yard. Die zwanzig Minuten hatten bereits begonnen.
Seltsam, dachte sie, daß ich überhaupt keine Furcht habe. Ihr Herzschlag dröhnte in ihren Ohren, ihr Mund war trocken. Aber sie hatte keine Angst. Sie war mit einem Mörder allein in der Wohnung, Tommy war weit, weit weg, von einem Schneesturm aufgehalten. Aber sie hatte keine Angst. Noch während sie gegen die Tränen kämpfte, begriff sie, daß sie keine Angst hatte, weil ihr alles gleichgültig geworden war. Nichts war mehr wichtig, am wenigsten, ob sie lebte oder starb.
Beim zweiten Läuten hob Barbara Havers ab. Es war ein Viertel nach sieben; seit mehr als zwei Stunden saß sie in Lynleys Büro an seinem Schreibtisch und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Sie war so erleichtert, endlich Lynleys Stimme zu hören, daß sich die ganze angestaute Spannung in einem hitzigen Zornesausbruch entlud. Doch er fuhr ihr, ohne abzuwarten, in die Parade.
»Havers, wo ist Constable Nkata?« fragte er scharf.
»Nkata?« wiederholte sie verdutzt. »Der ist nach Hause gegangen.«
»Holen Sie ihn. Ich brauche ihn am Onslow Square. Sofort.«
Sie drückte ihre Zigarette aus und nahm sich einen Zettel.
»Sie haben Davies-Jones gefunden?«
»Er ist bei Helen in der Wohnung. Ich will ihn überwachen lassen, Havers. Aber wenn es hart auf hart geht, müssen wir ihn festnehmen.«
»Wie denn? Und warum?« fragte sie ungläubig. »Abgesehen von dieser Darrow-Geschichte, die ungefähr genauso dürftig ist wie das, was wir gegen Stinhurst haben, haben wir doch praktisch nichts gegen ihn in der Hand. Sie haben mir selbst gesagt, daß alle außer Irene Sinclair damals in Norwich beim Ensemble waren. Und das schließt auch Stinhurst ein. Außerdem hat Macaskin -«
»Keine Widerrede, Havers. Zu langen Diskussionen habe ich jetzt keine Zeit. Tun Sie, was ich sage. Und danach rufen Sie Helen an. Halten Sie sie mindestens dreißig Minuten am Telefon fest. Länger, wenn es geht. Haben Sie mich verstanden?«
»Dreißig Minuten? Na hören Sie mal, wie soll ich das denn anstellen? Soll ich ihr vielleicht meine ganze aufregende Lebensgeschichte erzählen?«
»Gottverdammich«, schimpfte Lynley gereizt, »tun Sie wenigstens ausnahmsweise mal, was ich sage. Und zwar sofort. Und erwarten Sie mich im Yard.«
Und schon hatte er aufgelegt. Barbara rief Nkata an, übermittelte ihm seinen Auftrag, knallte den Hörer auf und starrte mit finsterer Miene auf die Papiere auf Lynleys Schreibtisch. Es war ein Bericht aus Strathclyde mit den endgültigen Befunden der Spurensicherung - man hatte die Fingerabdrücke geprüft, Haare und Fasern untersucht, die am Tatort sichergestellt worden waren, den Cognac analysiert, den Davies-Jones mit zu Helen hinaufgebracht hatte. Das Ergebnis war praktisch gleich Null. Nicht das kleinste Indiz, das ein erfahrener Verteidiger nicht mühelos hätte vom Tisch fegen können.
Barbara wußte etwas, das Lynley noch nicht wußte. Wenn sie Davies-Jones - oder einen anderen - überführen wollten, dann würde es ihnen gewiß nicht aufgrund der Ergebnisse gelingen, die Inspector Macaskin in Schottland gesichert hatte.
Sie hieß Lynette, aber Robert Gabriel hatte Mühe, das im Kopf zu behalten, und mußte ständig aufpassen, daß er sie nicht versehentlich mit einem anderen Namen ansprach. Es waren ja auch so viele gewesen in den letzten Monaten. Wie sollte man sie alle auseinanderhalten? Aber im entscheidenden Moment erinnerte er sich doch, wer sie war: die Kleine, die im Agincourt ihre Ausbildung als Maskenbildnerin angefangen hatte. Ihre hautenge Jeans und das dünne gelbe T-Shirt lagen im Dunkeln auf dem Boden seiner Garderobe. Er hatte schnell genug - und mit erheblichem Vergnügen - entdeckt, daß sie darunter absolut nichts anhatte.
Ihre Fingernägel gruben sich in seinen Rücken, und er stöhnte lustvoll, obwohl es ihm lieber gewesen wäre, sie hätte eine andere Methode gewählt, ihm ihre wachsende Erregung mitzuteilen. Er ritt sie, wie es ihr am besten zu gefallen schien - grob -, und gab sich dabei größte Mühe, nicht ihr schwüles Parfüm einzuatmen und nicht den leicht öligen Geruch, der von ihrem Haar aufstieg. Während er ihr aufmunternd ins Ohr murmelte, beschäftigte er sich im
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