02 - Keiner werfe den ersten Stein
der Wand hing, enthüllte dem, der diesen Mann ein wenig näher kannte, etwas, das er seit langem in sich verschlossen trug.
Sie zeigte St. James. Es war ein altes Bild, vor dem Unfall aufgenommen, der ihn zum Invaliden gemacht hatte. Barbara betrachtete die Details: Die Arme vor sich gekreuzt, stand St. James auf einen Cricketschläger gestützt; seine weiße Hose hatte am linken Knie einen großen Riß, und an seiner Hüfte prangte ein Grasfleck. Strahlend vor Lebensfreude lachte er in die Kamera. Sommer der Vergangenheit, dachte Barbara. Sommer auf immer verloren. Sie wußte sehr wohl, warum diese Fotografie hier hing. Sie richtete den Blick wieder auf Lynley.
Er saß immer noch in seine Lektüre vertieft, den gesenkten Kopf in die Hand gestützt. Erst nach einigen Minuten sah er auf, nahm seine Brille ab und begegnete ihrem Blick.
»Hier haben wir nichts, was eine Verhaftung rechtfertigen würde«, sagte er mit einer Geste auf die von Macaskin übermittelten Informationen.
Barbara zögerte. Die Leidenschaftlichkeit seiner Worte, als er am Abend mit ihr telefoniert hatte, hatte sie beinahe davon überzeugt, daß sie sich mit ihrem Verdacht gegen Stuart Stinhurst irrte. Darum fiel es ihr jetzt um so schwerer, ihn auf das Offensichtliche aufmerksam machen zu müssen. Aber sie brauchte es gar nicht zu tun; er kam von selbst darauf zu sprechen.
»Und Davies-Jones können wir bestimmt nicht aufgrund eines fünfzehn Jahre alten Theaterzettels festnehmen. Wir könnten ebensogut alle anderen verhaften, wenn das unsere ganzen Beweise sind.«
»Aber Stinhurst hat die Skripten verbrannt«, wandte Barbara ein.
»Wenn man davon ausgehen will, daß er Joy Sinclair tötete, um zu verhindern, daß sie die Sache mit seinem Bruder publik machte, dann ist das sicher ein Indiz, ja. Aber ich sehe die Sache nicht so, Havers«, sagte Lynley.
»Das Schlimmste, was Stinhurst zu erwarten hatte, falls die Geschichte von Geoffrey Rintouls Verrat und gewaltsamem Tod durch das Stück bekannt geworden wäre, waren ein Skandal und ein ruinierter Ruf. Hannah Darrows Mörder jedoch mußte mit Entlarvung, Gerichtsverhandlung und einer hohen Haftstrafe rechnen, wenn sie ihr Buch geschrieben hätte. Also, welches Motiv erscheint Ihnen zwingender?«
»Vielleicht ...« Barbara wußte, daß sie ihre Theorie mit Vorsicht vorbringen mußte. »Vielleicht haben wir ein doppeltes Motiv. Aber nur einen Mörder.«
»Wieder Stinhurst?«
»Er hat immerhin damals in Norwich Regie geführt, Inspector. Er kann der Mann gewesen sein, mit dem Hannah Darrow ein Verhältnis hatte. Und er könnte sich die Schlüssel zu Joy Sinclairs Zimmer von Francesca Gerrard besorgt haben.«
»Sehen Sie sich die Fakten an, die Sie vergessen haben, Havers. Alles, was Geoffrey Rintoul anging, war aus Joy Sinclairs Arbeitszimmer entfernt worden. Aber alles, was sich auf Hannah Darrow bezog - all die Details, die uns überhaupt erst auf ihre Geschichte aufmerksam machten -, war vorhanden. Unübersehbar.«
»Natürlich, Sir. Stinhurst hätte die Leute von MI5 ja auch kaum beauftragen können, die Unterlagen und Notizen über Hannah Darrow auch noch verschwinden zu lassen. Die Geschichte ging schließlich die Regierung nichts an. Die brauchte sie nicht zu vertuschen. Außerdem - woher hätte Stinhurst wissen sollen, was sie bereits an Material über Hannah Darrow zusammengetragen hatte? Sie erwähnte ja John Darrow an dem Abend vor ihrer Ermordung nur ganz beiläufig beim Essen. Wenn Stinhurst - ja, ja, wenn der Mörder nicht vor dem Wochenende bei Joy Sinclair war und sich ihre Unterlagen hat zeigen lassen, woher soll er gewußt haben, was sie schon an Material hatte? Oder nicht hatte.«
Lynley schien durch sie hindurchzublicken. Sein abwesender Gesichtsausdruck verriet ihr, daß ein neuer Gedanke ihn beschäftigte.
»Sie haben mich auf eine Idee gebracht, Havers.« Er trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch. Sein Blick wanderte zu dem Tagebuch in Barbaras Hand. »Ich glaube, es gibt eine Möglichkeit, Klarheit zu schaffen, auch wenn Strathclyde uns überhaupt nichts geliefert hat«, sagte er schließlich. »Aber wir brauchen Irene Sinclair dazu.«
»Irene Sinclair? Wieso?«
Er nickte nachdenklich. »Sie allein kann uns helfen. Sie ist die einzige von der Truppe, die 1973 nicht in Drei Schwestern mitgespielt hat.«
Sie trafen Irene Sinclair nicht in ihrer Wohnung in Bloomsbury an. Eine Nachbarin, die es übernommen hatte, sich um die beiden Kinder zu kümmern,
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