02 - Keiner werfe den ersten Stein
Anteilnahme zwei Grundzüge von Helens Wesen waren. Es entsprach ihrer Natur, an Gowan zu denken, noch ehe sie an sich selbst dachte.
»Damals auf Westerbrae behauptete David Sydeham, er hätte seine Handschuhe am Empfang liegengelassen«, antwortete er. »Er sagte, er hätte sie gleich nach seiner Ankunft dort vergessen.«
Sie nickte verständig. »Aber als Francesca Gerrard an dem Abend nach der Leseprobe mit Gowan zusammenstieß, so daß ihm das Tablett mit dem Likör und den Gläsern hinunterfiel, mußte er hinterher das ganze Foyer saubermachen. Und da hat er David Sydehams Handschuhe nirgends gesehen, nicht wahr? Er hat sich wohl nicht sofort daran erinnert.«
»Ja, ich denke, so muß es gewesen sein. Aber als er sich dann daran erinnerte, hat er vermutlich gleich gewußt, was es zu bedeuten hatte. Der Handschuh, den Barbara Havers am nächsten Tag beim Empfang fand, konnte nur von Sydeham dort hingelegt worden sein, nachdem er Joy getötet hatte. Ich glaube, das war es, was Gowan mir sagen wollte, kurz bevor er starb. Daß er die Handschuhe am Empfang nicht gesehen hatte. Aber ich - ich dachte, er spräche von Rhys.«
Lynley sah, wie sie einen Moment die Augen schloß, als er den Namen erwähnte. Sie hatte wohl nicht erwartet, ihn von ihm zu hören.
»Wie hat Sydeham es gemacht?«
»Er war noch im Wohnzimmer, als Macaskin und die Köchin zu mir kamen und darum baten, die Leute aus der Bibliothek herauszulassen. Er schlich sich in die Küche und holte sich das Messer.«
»Obwohl das ganze Haus voller Menschen war? Obwohl die Polizei da war?«
»Die Polizeibeamten packten bereits ihre Sachen, weil sie abfahren wollten. Die anderen wollten alle nur möglichst schnell in ihre Zimmer, um sich frisch zu machen. Außerdem war es eine Sache von höchstens ein, zwei Minuten. Danach ging er über die Hintertreppe nach oben.«
Ohne nachzudenken, hob Lynley die Hand und strich ihr sachte über das Haar, folgte seinem Schwung, bis seine Hand ihre Schulter erreichte. Sie entzog sich seiner Berührung nicht.
»Helen, es tut mir alles so leid«, sagte er. »Ich mußte zu dir kommen, um dir wenigstens das zu sagen.«
Sie sah ihn nicht an. Sie blickte starr auf die Ruine von Caisteal Maol, die schon halb vom Schatten der Nacht eingehüllt war, und erklärte dann sehr leise: »Du hattest recht, Tommy. Du sagtest, meine Beziehung zu Rhys wäre nichts als eine Wiederholung meiner Geschichte mit Simon, nur daß ich diesmal ein anderes Ende herbeiführen wolle. Ich habe erkannt, daß es wirklich so war. Aber das Ende war dann doch nicht anders, nicht wahr? Als es soweit war, habe ich wieder genau das gleiche getan wie vorher. Ich habe ihn im Stich gelassen.«
Es war keine Bitterkeit herauszuhören, aber Lynley wußte, wieviel Selbstekel hinter jedem ihrer Worte stand.
»Nein«, sagte er unglücklich.
»Doch. Rhys wußte, daß du am Telefon warst. Und nachdem ich aufgelegt hatte, fragte er mich, ob du es gewesen wärst. Ich sagte, nein. Ich sagte, es sei mein Vater gewesen. Aber er wußte die Wahrheit. Und er spürte, daß du mich davon überzeugt hattest, daß er ein Mörder sei. Ich habe es natürlich geleugnet, ich habe alles geleugnet. Als er mich fragte, ob ich dir gesagt hätte, daß er bei mir war, leugnete ich auch das. Aber er wußte, daß ich log. Und er sah, daß ich mich entschieden hatte. Genauso, wie er es vorausgesagt hatte.«
Sie hob resigniert eine Hand. »Ich brauchte keinen Hahn, der dreimal krähte. Ich wußte auch so, was ich getan hatte.«
»Aber Helen, das ist doch nicht deine Schuld«, sagte er beschwörend. »Du hättest das alles nicht getan, wenn ich dich nicht da hineingetrieben hätte. Was solltest du denn denken, als ich dir von Hannah Darrow erzählte? Was solltest du denn glauben? Und wem solltest du glauben?«
»Genau das ist es doch. Ich hätte mich trotz allem, was du mir sagtest, für Rhys entscheiden können. Das wußte ich damals, und das weiß ich jetzt. Aber statt dessen entschied ich mich für dich. Als Rhys das erkannte, ging er. Und wer könnte ihm daraus einen Vorwurf machen? Es kann eine Beziehung nur zerstören, wenn der eine glaubt, daß der andere ein Mörder ist.« Jetzt endlich sah sie ihn an. Sie stand ihm so nahe, daß er den reinen, frischen Duft ihres Haares wahrnehmen konnte. »Und bis zu der Nacht in Hampstead glaubte ich, Rhys sei der Mörder.«
»Aber warum hast du ihn dann gewarnt? Wolltest du mich damit strafen?«
»Ihn gewarnt? Du glaubst, ich hätte ihn
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