02 - Keiner werfe den ersten Stein
von einem Polizeibeamten nicht erwartet zu haben.
»Ein Stück von mir ist für immer verloren. Es ist, als - nein, ich kann es nicht erklären.« Ihre Stimme zitterte.
Jeder Tod eines Menschen nimmt mir etwas, weil ich Teil der Menschheit bin. Lynley, der seit Jahren immer wieder mit dem Tod in all seinen Erscheinungsformen konfrontiert wurde, verstand weit besser, als Francesca Gerrard ahnte, was sie meinte. Doch er sagte nur: »Sie werden sehen, daß in so einem Fall Schmerz zur Ruhe kommt, wenn Gerechtigkeit geschieht.
Sicher nicht sofort, aber allmählich.«
»Und dazu brauchen Sie mich. Ja. Ich verstehe.« Sie richtete sich auf, schneuzte sich in ein feuchtes Papiertaschentuch und trank noch einen Schluck Whisky. In ihren Augen sammelten sich neue Tränen.
»Wie ist die Kette in Ihr Zimmer gekommen?« fragte Lynley.
Barbara Havers zog ihren Bleistift heraus.
Francesca zögerte. Zweimal öffnete sie den Mund, ehe sie sprechen konnte. »Ich habe sie mir gestern nacht zurückgeholt. Ich hätte es Ihnen schon früher gesagt, vorhin im Salon. Ich hatte es vor. Aber als Elizabeth und Mr. Vinney anfingen - ich wußte nicht, was ich tun sollte. Es ging alles so schnell. Und dann Gowan ...« Sie geriet ins Stocken bei dem Namen.
»Ja. Ich verstehe. Sind Sie in Joy Sinclairs Zimmer gegangen, um sich die Kette zu holen, oder hat sie sie Ihnen gebracht?«
»Ich war in ihrem Zimmer. Die Kette lag auf der Kommode neben der Tür. Wissen Sie, auf einmal wollte ich sie ihr nicht mehr geben.«
»Und Sie haben sie so problemlos zurückbekommen? Gab es keine Diskussion?«
Francesca schüttelte den Kopf. »Nein, sie hat ja geschlafen.«
»Sie haben sie gesehen? Sie waren in ihrem Zimmer? War denn die Tür nicht abgeschlossen?«
»Doch. Ich ging erst ohne meine Schlüssel, weil ich dachte, sie hätte sicher nicht abgeschlossen. Ich meine, alle kannten sich ja. Es gab keinen Grund abzusperren. Aber ihre Tür war doch abgeschlossen. Da bin ich ins Büro gegangen und habe meine Hauptschlüssel geholt.«
»Der Schlüssel steckte nicht von innen?«
Francesca runzelte die Stirn. »Nein - sonst hätte ich ja nicht aufsperren können.«
»Erzählen Sie genau, was Sie getan haben, Mrs. Gerrard.«
Bereitwillig ging Francesca mit ihnen den Weg von ihrem eigenen Zimmer zu dem Joys, wo sie den Türknauf drehte und feststellte, daß abgeschlossen war; weiter von Joys Zimmer in ihr Büro, wo sie aus der untersten Schublade ihres Schreibtischs den Bund mit den Hauptschlüsseln genommen hatte; vom Büro wieder zu Joys Zimmer, wo sie leise die Tür aufsperrte, im Licht des Korridors die Perlenkette liegen sah, sie an sich nahm und die Tür wieder absperrte; von Joys Zimmer zurück ins Büro, wo sie die Schlüssel wieder einsperrte, und dann in ihr eigenes Zimmer, wo sie die Kette in den Schmuckkasten zurücklegte.
»Wie spät war es da?« fragte Lynley.
»Drei Uhr fünfzehn.«
»Genau?«
Sie nickte. »Ich weiß nicht, ob es Ihnen schon einmal passiert ist, daß Sie aus einem Impuls heraus etwas taten, was Sie dann bedauerten, Inspector. Aber ich bedauerte es, mich von den Perlen getrennt zu haben. Gleich nachdem Elizabeth sie Joy gebracht hatte. Ich lag im Bett und überlegte, was ich tun sollte. Ich wollte keine Konfrontation mit Joy. Ich wollte aber auch meinen Bruder damit nicht belasten. Darum bin ich schließlich - nun ja, ich habe sie wohl gestohlen, nicht wahr? Und ich weiß, daß es Viertel nach drei war, weil ich die ganze Zeit wachgelegen und immer wieder auf die Uhr gesehen hatte. Und um Viertel nach drei beschloß ich schließlich, mir meine Kette einfach wiederzuholen.«
»Sie sagten, daß Joy schlief. Haben Sie sie gesehen? Haben Sie ihren Atem gehört?«
»Es war so dunkel im Zimmer. Ich - ich habe wahrscheinlich einfach angenommen, sie schliefe. Sie rührte sich nicht, sie sagte auch nichts. Sie -« Ihre Augen weiteten sich.
»Meinen Sie, sie könnte schon tot gewesen sein?«
»Haben Sie sie denn überhaupt gesehen?« »Im Bett, meinen Sie? Nein, ich konnte das Bett gar nicht sehen. Die Tür war dazwischen, ich hatte sie nur einen kleinen Spalt aufgemacht. Ich dachte einfach -«
»Und der Schreibtisch in Ihrem Büro, war der abgeschlossen?«
»O ja«, antwortete sie. »Er ist immer abgeschlossen.«
»Wer hat Schlüssel dazu?«
»Einen ich und einen Mary Agnes.«
»Wäre es möglich, daß jemand Sie beobachtet hat, als Sie von Ihrem Zimmer aus zu Joy Sinclair gingen? Oder ins Büro?«
»Ich habe niemanden
Weitere Kostenlose Bücher