02 - komplett
brannten, zwang Ruth sich dazu, seinem amüsierten Blick standzuhalten. Doch ihr kämpferisch gehobenes Kinn schien seine Belustigung noch zu vertiefen.
„Wollen wir uns in die Bibliothek setzen?“ Er bot ihr mit einer eleganten Bewegung den Arm. „Als ich vorhin nachschaute, brannte ein Feuer im Kamin. Außerdem finden wir dort jede Menge gelehrter Bücher, falls uns noch vor dem Abendessen die Gesprächsthemen ausgehen.“
Nach kaum wahrnehmbarem Zögern legte Ruth ihm die Hand auf den Arm und ließ sich die Treppe hinunterführen. Wie war es ihm nur gelungen, so mühelos die Situation zu entschärfen?
Lächelnd bemerkte er: „Übrigens kann ich das Dinner kaum erwarten. Ich hoffe, es erweist sich als gut und reichlich.“
„Sarah ist eine ausgezeichnete Gastgeberin.“ Ruth fühlte sich bemüßigt, den Ruf der Freundin zu verteidigen. „Als ich mich kurz vor der Abreise der beiden nach Surrey das letzte Mal hier zu Tisch setzte, wurden acht Gänge serviert.“
„Sehr gut. Eine so lange Kutschfahrt macht nämlich hungrig.“ Als sie auf die Tür der Bibliothek zugingen, setzte er hinzu: „Wie schade, dass Sie nicht an der Hochzeit des glücklichen Paares teilnehmen konnten.“
Ruth nickte, und Kerzenlicht schimmerte auf ihren dunklen Haaren. „Ja, ich habe es selbst bedauert. Sarah hätte mich gerne als Trauzeugin gebeten, aber damals lag die Beerdigung meines Vaters erst sehr kurze Zeit zurück, und während der Trauerzeit wäre meine Teilnahme an einem solchen Fest nicht angemessen gewesen. Man muss schließlich die Regeln des Anstands wahren.“
„Manchmal erweisen sich die Regeln des Anstands als verflixt lästig“, antwortete Clayton. „Ich hatte gehofft, Sie auf der Hochzeit wiederzusehen.“
Die unverblümte Aussage überraschte Ruth so sehr, dass ihr die Worte fehlten. Einen Moment lang schien sie den Blick nicht von seinem wenden zu können, bevor sie sich zusammenriss und entgegnete: „Jedenfalls glaube ich, dass sich das Warten auf das Dinner lohnen wird.“ Sie wies auf die Tür, die zum Küchentrakt führte.
„Irgendetwas duftet ausgesprochen appetitlich.“
„Rinderbraten mit Meerrettich“, riet Clayton.
„Ich würde eher auf Hühnchen tippen ... oder Gans.“ Sie meinte, Salbei und Zwiebeln zu riechen, die man üblicherweise in der Geflügelfüllung verwendete.
„Wollen wir wetten?“, fragte Clayton herausfordernd.
„Natürlich, gerne.“ Sie lachte. „Und ich weiß auch schon genau, was mein Preis sein soll. Wenn ich gewinne, müssen Sie später unbedingt darauf bestehen, dass wir Karten spielen. Sonst wird Sarah vorschlagen, dass ich die Gesellschaft am Klavier unterhalte. Sie behauptet nämlich, ich könnte singen, und ich versichere Ihnen, dass ich im Gegenteil keinen Ton richtig treffe. Sie sollen nicht mit anhören müssen, wie ich es Ihnen beweise.“
Clayton lachte in sich hinein. „Also gut, ich stimme zu. Und was, wenn ich gewinne?“
„Ach, dann erlaube ich Ihnen, mich ein einziges Mal beim Pikett zu schlagen. Sie müssen wissen, dass Sie eine Meisterin der Karten vor sich sehen.“
„Tatsächlich? Die meisten Damen meiner Bekanntschaft spielen erstaunlich schlecht.“
Ruth wandte den Blick ab. Sie verspürte Erregung und erinnerte sich streng daran, dass dieser Mann als Frauenheld verschrien war. Kein Wunder, dass er so gekonnt mit ihr flirtete! Trotzdem freute es sie, dass sie sich ausnehmend gut zu verstehen schienen, nachdem diese Begegnung recht holprig angefangen hatte.
4. KAPITEL
„Darf ich Ihnen etwas zu trinken einschenken?“, erkundigte sich Clayton, nachdem er Ruth zu einem Sessel am Kamin geleitet hatte.
Auf einem Beistelltischchen funkelten etliche Kristallkaraffen, die er eine nach der anderen anhob, um ihren Inhalt zu inspizieren.
„Danke, einen kleinen Sherry nehme ich gerne“, antwortete Ruth, nachdem er ihr mitgeteilt hatte, was zur Auswahl stand.
Er reichte ihr das Glas und ließ sich in dem Sessel gegenüber nieder. Verstohlen musterte Ruth ihn, als er die langen Beine ausstreckte und den Kopf drehte, um in die tanzenden Flammen zu schauen.
Der Schein des Feuers ließ sein Profil weicher wirken und verlieh seinem blonden Haar einen rötlichen Schimmer. Müßig drehte Sir Clayton den Stiel seines Cognacschwenkers zwischen den schlanken Fingern. Weit davon entfernt, mit ihr zu flirten oder den humorvollen Austausch mit ihr fortzusetzen, schien er ihre Anwesenheit vollkommen vergessen zu haben und den eigenen Gedanken
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