02 - komplett
wenn mehr hinter der Einladung steckte als der selbstlose Wunsch, den besten Freund aus den Fängen von dessen Geliebter zu retten? Was, wenn Sarah ihren Mann dazu überredet hatte, weil sie etwas ganz anderes im Sinn hatte?
Clayton war der Frau seines Freundes sehr zugetan, und er beneidete Gavin darum, eine so reizende Gefährtin gefunden zu haben. Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass jede einzelne Frau seines gesellschaftlichen Umfeldes mindestens einmal versucht hatte, ihn mit einer jungen Freundin oder Verwandten zu verkuppeln.
„Hat die Viscountess Ihnen erzählt, dass ich kommen würde?“, fragte er rundheraus.
Endlich begriff Ruth, was hinter seinen ironischen Fragen steckte. Er stieß sich nicht etwa daran, dass sie von seiner unglücklichen Ehe wusste. Nein, er glaubte, sie wolle die zweite Lady Powell werden! Das Fünkchen Zorn in ihrem Innern wuchs zu einer lodernden Flamme an. Wie konnte er es wagen! Dieser Mann besaß tatsächlich die Frechheit zu glauben, sie und Sarah hätten sich verbündet, um ihn in die Ehefalle zu locken. Zweifellos ging er davon aus, dass dieses Tête-à-Tête ebenfalls einem sorgfältig geschmiedeten Plan zu verdanken war.
„Sagte ich nicht vorhin schon, dass ich nichts von Ihrem Besuch hier ahnte?“, gab Ruth eisig zurück. „Und als ich nach Ihrer Familie fragte, hatte ich keineswegs Ihren Familien stand im Sinn. Ich habe mich lediglich daran erinnert, dass wir bei unserer letzten Begegnung kurz über den Tod meines Vaters sprachen, und wollte mich höflich nach dem Wohlergehen Ihrer nächsten Verwandten erkundigen.“
Sie stellte ihr Glas ab und erhob sich. „Ich hatte gehofft, wir könnten die unerwartete Abwesenheit unserer Gastgeber mit Anstand überbrücken. Zu meinem Leidwesen muss ich erkennen, dass ich mich getäuscht habe.“
Plötzlich erschien es ihr undenkbar, noch einen einzigen Augenblick in der Gegenwart dieses eingebildeten Widerlings zu verbringen. Zwar hatte sie nicht die Absicht, Sarah zu verletzen, indem sie einfach verschwand. Aber wenn sich die Wege als einigermaßen passierbar erwiesen, wollte sie heimfahren. Hätte sie doch niemals diese Einladung angenommen! Nun war ihr das lang ersehnte Wiedersehen mit der besten Freundin verdorben, und die Schuld daran trug niemand anders als dieser unerträgliche Sir Clayton.
Eilig trat sie an das Fenster, von dem aus man das Grundstück gut überblicken konnte. Sie raffte den schweren Samtvorhang etwas zur Seite und versuchte, draußen etwas zu erkennen. Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, aber dann erkannte sie, dass die gesamte Landschaft unter einer weißen Decke begraben lag. Und noch immer fielen lautlos dicke Schneeflocken vom Himmel. Schweren Herzens zog Ruth den Vorhang wieder vor und wandte sich um.
Auch Clayton hatte sich erhoben. Er war dabei, sich aus einer der Karaffen nachzuschenken, um das Glas gleich darauf in einem Zug zu leeren. Danach verharrte er eine Weile schweigend, den Kopf in den Nacken gelegt, den Blick gegen die Decke gerichtet.
Schließlich sagte er: „Es tut mir leid. Ich weiß wirklich nicht, warum ich das eben gesagt habe.“ Er fuhr sich übers Haar. „Nun ja, eigentlich weiß ich es natürlich schon, aber ich hatte kein Recht, meine schlechte Laune an Ihnen auszulassen. Ich habe mich unverzeihlich verhalten und ein Benehmen an den Tag gelegt, das ganz und gar nicht gesellschaftsfähig ist.“
„Es ist gut zu wissen, dass Sie wenigstens zu wissen scheinen, was sich in Gesellschaft gehört“, gab Ruth kühl zurück. Seine Entschuldigung konnte ihren Ärger nicht vollständig besänftigen.
Clayton gab einen Laut von sich, der wie bitteres Lachen klang. „Wenn ich Ihren enttäuschten Gesichtsausdruck richtig deute, hat das Schneetreiben noch nicht nachgelassen. Sie sind also gezwungen, meine ungehobelte Gesellschaft weiter zu ertragen, statt nach Hause zu fahren.“
„Wie scharfsinnig von Ihnen“, entgegnete Ruth schnippisch. Sie zog ein Buch aus dem Regal und versenkte sich in die Betrachtung der Titelseite.
„Kommen Sie schon. Setzen Sie sich wieder hin. Bitte“, sagte Clayton. „Keiner von uns kann im Moment diesem Haus entkommen, und ich möchte wirklich nicht, dass der Abend mit unseren Freunden von schlechter Stimmung überschattet wird.“
„Oh, da stimme ich Ihnen vollkommen zu.“ Noch immer würdigte sie ihn keines Blickes, sondern blätterte scheinbar gefesselt in dem Buch. Leider nahm sie kein
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