02 - komplett
nachzuhängen. Da sie sich unbeobachtet wähnte, musterte Ruth ihn ausgiebig.
Die meisten Gentlemen der besten Kreise staffierten sich mit farbenprächtiger Kleidung aus und trugen eine Vielzahl von Uhrketten und anderen Schmuckstücken.
Sir Claytons Erscheinung jedoch ähnelte in nichts einem dieser eitlen Pfauen. Sein dunkler Gehrock und die passenden Pantalons fielen lediglich durch ihren exquisiten Schnitt auf, und Juwelen suchte man an ihm vergeblich. Ausgenommen waren lediglich ein schwerer goldener Siegelring und eine unauffällige goldene Uhr, die aus einer Westentasche hervorblitzte.
Als Ruth den Blick hob, schoss ihr augenblicklich das Blut in die Wangen. Hastig nippte sie an ihrem Sherry und verschluckte sich fast daran, sodass sie unwillkürlich die Hand vor den Mund schlug. Wie lange hatte er zugesehen, wie sie ihn auf solch unverzeihlich vulgäre Weise anstarrte?
„Möchten Sie noch einen?“, erkundigte er sich mit Blick auf ihr leeres Glas, einen spöttischen Unterton in der Stimme.
„Nein ... nein, danke. Ich habe nur ... das heißt – Sie haben so melancholisch gewirkt.
Ich wollte Sie wirklich nicht anstarren.“
„Bestimmt nicht. Jedenfalls wollten Sie dabei keinesfalls erwischt werden.“
„Genauso wenig, wie Sie vorhin dabei erwischt werden wollten, wie Sie mich musterten?“ Herausfordernd begegnete sie seinem Blick.
„Oh, Sie dürfen ruhig wissen, wie anziehend ich Sie finde.“ Damit leerte er ungerührt sein Cognacglas.
Stille trat ein. Regungslos saß Ruth da und kämpfte mit sich, wie sie reagieren sollte.
War es besser, ihm für das Kompliment zu danken, oder sollte sie es als plumpe Vertraulichkeit eines notorischen Schürzenjägers einfach ignorieren? Schließlich hatte sie gerade erst von Sarah erfahren, dass Sir Clayton Powell als unverbesserlicher Frauenheld galt.
„Vielleicht wechseln wir lieber das Thema“, schlug sie schließlich vor, um Fassung bemüht. „Inzwischen wissen Sie ein bisschen über mich und meine Familie. Wollen Sie mir etwas über die Ihre erzählen?“
Clayton lachte auf, doch in dem Laut lag kein Fünkchen Humor. „Ich nehme an, Sie möchten herausfinden, warum ich nicht mehr verheiratet bin.“
Einen Augenblick lang war Ruth sprachlos, und sie konnte ihr Gegenüber nur verständnislos anblicken. Ein verblüffender Kerl, dieser Sir Clayton Powell! Oder pflegte er auf diese Weise Frauen in ihre Grenzen zu weisen, die ihre Nase in seine Angelegenheiten steckten? Sie hatte keineswegs die Absicht gehabt, ihm zu nahe zu treten, sondern auf ein ungezwungenes Geplauder über Eltern und Geschwister gehofft. Schließlich wusste er, dass sie ihren Vater verloren hatte.
Plötzlich spürte Ruth einen Funken Zorn in ihrem Innern aufglühen. Sie riss sich zusammen, um ihm mit eisiger Stimme die verdiente Antwort zu erteilen. „Im Gegenteil, Sir. Ihr Familienstand interessiert mich nicht im Entferntesten.“
„Ach, wirklich nicht?“, fragte er zurück. „Dann sind Sie in meinem gesamten Bekanntenkreis mit Sicherheit die einzige Frau unter fünfzig, auf die das zutrifft.“
„Sie dagegen stehen in meinem Bekanntenkreis vollkommen allein mit der arroganten Vermutung, mich könnte interessieren, ob Sie verheiratet sind oder nicht.“ Wie war es ihm nur gelungen, sich innerhalb eines einzigen Augenblicks von einem charmanten Gesellschafter in einen hochmütigen Zyniker zu verwandeln?
„Dann wussten Sie also nicht, dass ich geschieden bin?“, erkundigte sich Clayton. Ein herausfordernder Unterton begleitete seine Worte, und sein Blick hielt den ihren unerbittlich fest.
Schon wieder spürte Ruth, wie ihr verräterische Hitze in die Wangen kroch. Sie wusste davon, schließlich hatte sie die Geschichte seiner mésalliance mit Priscilla erst heute ungefragt von Sarah erfahren. Und vorhin hatte sie tatsächlich darüber nachgedacht, auf welche Weise ein so gut aussehender und reicher Gentleman wie er in die Fänge einer solchen Frau geraten sein mochte. Jedenfalls konnte sie nun Sarahs Einschätzung bestätigen, dass die Erfahrung seiner Ehe ihn verbittert hatte.
Clayton beobachtete, wie Ruth errötete und verlegen den Blick senkte, und er verzog die Lippen zu einem höhnischen Lächeln. Offenbar hatte er mit seiner Bemerkung genau ins Schwarze getroffen.
Als Gavin ihm heute spontan vorgeschlagen hatte, nach Willowdene mitzufahren und damit Loretta für eine Weile aus dem Weg zu gehen, hatte er in einer Augenblickseingebung zugesagt. Aber was war,
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