02 - komplett
werde mich ganz bestimmt nicht von zwei gierigen Menschen einschüchtern lassen. Und jetzt esst tüchtig, denn ich warne euch, es wird ein sehr arbeitsreicher Tag. Es sind nur noch drei Tage bis Sonntag.“
Die Anstrengung tat Hester gut. Sie schickte Maria und Susan mit Honigwachspolitur und Staubwedel durch das Haus und lenkte ihre ganze Aufmerksamkeit darauf, die Fensterscheiben mit braunem Papier und Essig sauber zu bekommen. Doch wenn sie es am wenigsten erwartete, wurde sie plötzlich von einer Erinnerung an Guy heimgesucht – an den Duft seiner Haut, an seine Küsse und Liebkosungen, an seine Liebesbezeugungen und auch an seine Zweifel und sein Misstrauen.
Der Schmerz nahm ihr den Atem. Es war, als würde man sie wieder und wieder mit einem Messer mitten ins Herz treffen. Fast hätte sie laut gestöhnt und presste die Hand auf ihren Magen, um so die Qualen zu dämpfen. Eine starke, stolze Frau würde ihn aus ihrem Herzen verbannen, weil er ihrer Liebe nicht wert war. „Aber ich liebe ihn“, flüsterte sie. „Ich liebe ihn so sehr.“
Guy ging das Zusammentreffen zwischen seiner Schwester und Hester nicht aus dem Sinn. Er hatte Hester auf die schnödeste Art verletzt, das wusste er. Erst nach einer Weile gestand er sich ein, dass sie auch ihn verletzte hatte, weil sie ihm die Wahrheit vorenthalten hatte, doch dann sah er ein, wie wenig Gelegenheit er ihr dazu gegeben hatte, sie ihm zu enthüllen.
Ich liebe sie, also ist das alles völlig bedeutungslos, dachte er. Und doch war es keine einfache Sache, und es gäbe einen Riesenskandal in London, würde er Hester heiraten.
Dann war da noch das Problem der Rosen. Heute waren die letzten zwei fällig, und der Himmel allein wusste, was außerdem noch geschehen mochte. Er klingelte nach seinem Butler, der umgehend erschien.
„Parrott.“
„Jawohl, Mylord?“, erkundigte sich Parrott.
„Ich mache mir Sorgen um Miss Lattimers Sicherheit.“
„In der Tat, Mylord. Heute kommen die letzten zwei Rosen.“
„Genau.“ Guy war beeindruckt. Wusste dieser Mann eigentlich alles? Er fragte sich, ob es nicht einfacher wäre, Parrott schalten und walten zu lassen, ohne ihn auf seine Befehle warten zu lassen.
„Ich habe bereits mit Ackland gesprochen, Mylord. Er ließ mich wissen, dass er Befehl habe, mit niemandem aus diesem Haus zu sprechen und in keinem Fall Hilfe, welcher Art auch immer, anzunehmen.“
Damit musste Guy sich abfinden.
Eine fast schlaflose Nacht, in der er am Fenster gesessen und Ausschau gehalten hatte nach einem verdächtigen Licht oder sonstigen Aufruhr im Moon House, war seiner Gemütsverfassung am nächsten Morgen nicht gerade zuträglich.
Selbst Parrott hob erstaunt die Augenbrauen, als sein Herr bereits um halb sieben die Treppe herunterkam. „Guten Morgen, Mylord. Ich fürchte, die Vorbereitungen für das Frühstück haben gerade erst begonnen.“
„Ich möchte nicht frühstücken, Parrott, vielen Dank. Mir ist eher nach einem Spaziergang zumute.“
„Und danach möchten Sie bei Miss Lattimer vorsprechen?“
Guy seufzte. „Wenn ich wüsste, was ich zu ihr sagen soll. Falls sie in den vergangenen achtundvierzig Stunden so unglücklich gewesen ist wie ich, dann habe ich vielleicht eine Hoffnung, aber wer weiß das schon.“
„Miss Lattimer schien mir schon immer eine Dame mit gesundem Menschenverstand zu sein, Mylord.“
„Genau das ist ja meine Sorge!“
Guy ließ sich in seinen wärmsten Mantel helfen und trat hinaus in die eiskalte Morgenluft. Ein Spaziergang würde ihm guttun, dann konnte er im „Bird in Hand“
frühstücken und auf dem Rückweg bei Hester vorbeischauen.
Auf seinem Weg zur Gemeindewiese fiel ihm etwas Flatterndes an der Tür von Moon House auf. Ein Weihnachtskranz? Doch als er näher ging, wurde ihm bewusst, dass es ein Trauerkranz war – mit schwarzen Bändern.
Ohne sich bewusst zu sein, was er tat, öffnete Guy die Pforte und ging auf das Haus zu.
Dann sah er es. In der Mitte des Kranzes waren zwei Rosen mit schwarzem Band befestigt. Auf der Karte, die zwischen den Rosen steckte, las er: H.L. Ruhe in Frieden.
Guy stockte der Atem. Eisige Angst packte sein Herz.
Mit zitternden Händen riss er den Kranz ab und betätigte den Klopfer an der Tür.
Nach einer Ewigkeit, wie ihm schien, hörte er jemanden den Riegel zurückschieben.
Jethro öffnete, erkannte den frühen Besucher und wollte die Tür wieder zuschlagen.
Guy verschaffte sich Zugang, indem er mit der Schulter so heftig gegen die Tür
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