02 - komplett
Richtung, aus der eine gedämpfte Geigenmelodie zu ihm herüber klang. Beim Gehen fiel sein Blick zufällig auf eine Gestalt, die am anderen Ende der Eingangshalle an einer Säule lehnte. Er kniff die Augen etwas zusammen, um in dem Schein der Hunderten von Kerzen, die in den kristallenen Lüstern brannten, etwas erkennen zu können. Überraschung malte sich in seine Miene, um sofort einem Ausdruck von Freude zu weichen. Eilig ging Clayton auf Ruth Hayden zu.
„Was für eine angenehme Überraschung!“
Der Klang ließ Ruth erschreckt zusammenfahren. Augenblicklich wich ihr das Blut aus den Wangen, als sie den leicht ironischen Tonfall hörte. Eben noch hatte sie diese dunkle Stimme nur in ihrem Kopf vernommen, und sie hatte ihr die verdienten Vorwürfe gemacht. Nun stand Clayton leibhaftig vor ihr. Ruth suchte Halt an der Säule, denn die Knie drohten unter ihr nachzugeben.
Überrascht runzelte Clayton die Stirn. Es stimmte, ihre letzte Begegnung in Fernlea hatte nicht gerade freundschaftlich geendet. Aber der Ausdruck puren Entsetzens in Ruths Gesicht wunderte ihn trotzdem.
„Was ist los? Habe ich Sie erschreckt?“
Ruth schluckte und versuchte zu sprechen, aber die Kehle war ihr wie zugeschnürt.
Endlich brachte sie ein paar gestotterte Worte heraus: „Ja ... das heißt, nein ... Ja, Sie haben mich erschreckt.“ Ihre Lippen fühlten sich an, als seien sie von großer Kälte betäubt. „Was tun Sie hier?“, rief sie endlich verzweifelt.
„Oh, ich bin eingeladen“, antwortete er auf die wenig schmeichelhafte Frage, während er den Anblick genoss, den Ruth Hayden ihm bot. Er hatte sie noch nie in einem so eleganten Aufzug gesehen. Am liebsten hätte er dort weitergemacht, wo er an jenem Tag in ihrem Cottage aufgehört hatte. Er wollte die Hand nach ihr ausstrecken, ihr die Anspannung fortküssen, ihr erzählen, dass er stündlich ...
minütlich die Entscheidung bereute, gegangen zu sein.
Sie sollte wissen, dass er seitdem ständig an sie gedacht hatte, trotz der elenden Angelegenheit mit Ralph Pomfrey. Dass sie hier in London war, empfand er als unverdientes Geschenk. Vermutlich hatte sie Gavin und Sarah begleitet und weilte als Gast bei ihnen. Wenn er davon gewusst hätte, dann hätte er bereits Gavins allerersten Besuch auf der Stelle erwidert.
Eine Bewegung an den Flügeltüren zum großen Saal brachte Clayton dazu, den Blick von Ruths Gesicht zu wenden. Mit ironischem Amüsement hob er eine Augenbraue, als er die kleine Gruppe Damen bemerkte, die ihn und Mrs. Hayden offenbar mit angehaltenem Atem beobachteten. Trotzdem musste er einen Fluch unterdrücken.
Nun war kein Gedanke mehr daran, Ruth in ein leeres Zimmer zu ziehen!
„Mir scheint, dass wir einiges an Aufsehen erregen. Lassen Sie uns besser hineingehen, sonst heizen wir noch die Gerüchteküche an.“
„Dafür ist es zu spät.“ Ruth hatte gesprochen, ohne nachzudenken, aber ihre Worte wurden durch einen Schluchzer unterbrochen. Tränenblind starrte sie auf den Arm, den Clayton ihr höflich bot.
„Wofür?“
Ruth wich seinem Blick aus und starrte stattdessen auf die Marmorsäule. Gleichzeitig zermarterte sie sich das Gehirn, um eine unverfängliche Antwort auf seine Frage zu finden. Natürlich half es nichts. Aber das Geständnis schien ihr im Hals stecken bleiben zu wollen.
Fasziniert beobachtete Clayton, wie sich Ruths Busen hob und senkte. Er konnte die Augen nicht davon abwenden, und der verführerische Anblick brachte beinahe seine Selbstbeherrschung ins Wanken. Während der gesamten Suche nach Pomfrey waren es Müdigkeit und Erschöpfung gewesen, die ihn davon abgehalten hatten, zu Ruth Hayden zurückzufahren und sie in seine Arme zu reißen. Nun roch er den zarten Duft ihrer Haut und sah ihre fein geschwungenen Lippen so dicht vor sich, dass er nur den Kopf zu senken brauchte ... Er riss sich zusammen. Doch brennendes, unbefriedigtes Begehren ließ seine Stimme harsch klingen, als er die Frage wiederholte: „Wofür ist es zu spät?“
Ruth zwang sich dazu, einen Moment lang seinem Blick zu begegnen. Die Leidenschaft, die in seinen Augen loderte, überwältigte sie beinahe. Sofort gaukelte die Erinnerung ihr die Berührung dieser langen, schlanken Finger vor, die sich um ihre nackten Brüste legten. Sie spürte wieder den erst sanften, dann fordernden Kuss auf ihren Lippen ... So schnell, wie ihr das Blut aus den Wangen gewichen war, kehrte es nun zurück, und sie musste ein Stöhnen unterdrücken.
Clayton ließ sie die
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