02 - Schatten-Götter
zog sie dem größeren Mann, der vor ihr saß, die Augenbinde herunter. Ikarno Mazaret zuckte zurück, weil selbst das winzige Licht ihn blendete, und lächelte Suviel misstrauisch an.
»Seid gegrüßt, Lady. Wer Ihr auch seid, Euch gebührt mein aufrichtigster Dank.«
Suviel drohte in ihren Gefühlen zu ertrinken, als sich ihre Blicke trafen. Sie spürte Triumph, weil sie ihren Geliebten rettete, gleichzeitig jedoch brach ihr fast das Herz vor Gram, als sie begriff, dass sie für ihn eine Fremde war.
»Es ist mir eine Pflicht und ein Vergnügen, Herr«, erwiderte sie, löste die Fesseln von seinen Händen und wandte sich dann dem anderen Gefangenen zu. Bevor sie ihm die Augenbinde abnahm, wischte sie sich verstohlen die Tränen aus den Augen. Dann schnitt sie seine Fesseln durch. Gilly Cordale zuckte ebenfalls vor dem winzigen, schwebenden Wortlicht zurück, sah dann blinzelnd zu Suviel hoch und lächelte. Er war abgemagert, und in seinem Bart und seinem Haar war entschieden mehr Silber als zuvor, aber obwohl er seine Erinnerungen und einen großen Teil seiner Essenz an die Geistschatten verloren hatte, war etwas Unzerstörbares in seinem Wesen erhalten geblieben.
»Welch schöner Anblick«, sagte er. »Ich stehe tief in Eurer Schuld, Mylady.« Dann blickte er zu Mazaret, der mittlerweile aufgestanden war und sich an einem Pfeiler abstützte.
Die beiden Männer betrachteten sich eine Weile.
»Ihr seid kleiner, als ich dachte«, erklärte Mazaret, nachdem sich auch Gilly erhoben hatte. »Und Ihr seid weit hässlicher, als ich mir habe träumen lassen«, konterte Gilly.
Die beiden Männer lachten leise, während Suviel sie melancholisch beobachtete. Dann richteten beide ihren Blick auf sie.
»Lady«, sagte Gilly. »Ich weiß weder, wie ich heiße, noch wer mich gefangen hat, sondern nur, dass ich vor einem Tag hier erwacht bin. Dies trifft auch für meinen Freund hier zu …«
»Nur, dass ich meines Wissens nach bereits seit mehreren Tagen in diesem steinernen Verlies festgehalten werde«, ergänzte Mazaret gleichmütig. »Sagt uns, Mylady, wisst Ihr von uns, und kennt Ihr unsere Namen?« »Das tue ich«, sagte sie. »Ihr seid Ikarno Mazaret und Ihr«, sie sah Gilly an, »Gilly Cordale.« Als die beiden gleichzeitig auf sie einredeten, hob Suviel beide Hände. »Bitte, Ihr Herren, wir haben keine Zeit für Fragen. Wir befinden uns im Herzen eines Stützpunktes gefährlicher Feinde, und wenn wir fliehen wollen, müssen wir jetzt reagieren, solange noch alles in Aufruhr ist…«
Eine nun bereits vertraute Wesenheit streifte ihre Sinne und veranlasste sie, innezuhalten.
Und zwar so schnell ihr könnt … Ystregul hat soeben auf dem Rücken eines Nachtjägers Trevada verlassen und fliegt nach Osten.
Dann war der Geist des Vater-Baums wieder verschwunden, und Suviel stand mit ihren Schützlingen allein in der Dunkelheit.
»Waffen«, sagte Gilly. »Wir brauchen Waffen und eine Verkleidung.«
Suviel schüttelte den Kopf, während sie die Gabe der Mutter in den Händen zum Leben erweckte und die Gedankengesänge der Illusion in ihrem Bewusstsein beschwor.
»Nein, anders herum. Zuerst Verkleidungen, dann Waffen.«
Drei Tage nach ihrer Ankunft in Untollan stattete der Befehlshaber der zerstörten Bergfestung Keren einen Besuch ab.
Sie lag auf ihrer wackligen, mit Pelzen bedeckten Pritsche in der merkwürdigen, mit Säulen geschmückten, fensterlosen Kammer, die ihr Kerker war, und las in einem Kinderbuch voller bunter Märchen, als sie Schritte vor ihrer Tür hörte und aufblickte. Sie hatte ihr Abendessen aus dünnem Eintopf und hartem Brot bereits bekommen, also konnte es sich nicht um einen gewöhnlichen Besuch handeln. Sie klappte das Buch zu, stand auf, blies die Öllampe aus, die auf einem Regal neben ihrem Bett stand, sodass nur noch eine Lampe in einer Nische gegenüber der Tür brannte. Dann wartete sie im Schatten, als ein Schlüssel ins Schloss gesteckt und klappernd umgedreht wurde. Die Tür schwang auf.
»Domas! Also habe ich doch nicht geträumt, als ich deinen Namen gehört habe!« Ihre Erleichterung schlug in Ärger um. »Warum hast du mich eingesperrt? Du musst doch gewusst haben, wer ich bin …« »Ja, Keren, ich wusste sogar schon, dass du es bist, bevor meine Männer dich hergebracht haben. Es tut mir Leid, dass wir dich gefangen genommen haben, aber ich musste gewissen … Bedingungen zustimmen, um die Hilfe zu bekommen, die wir in dieser letzten Woche so dringend benötigten …«
Der
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