02 - Schatten-Götter
vereint mit Mitgefühl und Intuition, bescherte ihr einen langen, glorreichen Moment. Als Suviel schließlich begriff, was ihr und anderen durch diesen Kampf der Götter angetan worden war, strömten ihr lautlos die Tränen über die Wangen. Jetzt war sie wieder ein Ganzes und erkannte diesen grausamen Konflikt in seiner Gesamtheit. Sie sah, wie die Erden-Mutter bei der Durchführung ihrer Rache Verrat und Ungerechtigkeit genutzt hatte. Durch ihre Schliche war ein Fragment des Herrn des Zwielichts nun in das Spiegelkind Nerek gefahren, das zur Zitadelle von Gorla ritt, während der Gefährlichste der fünf Schattenkönige durch Suviels eigene Hand befreit worden war.
Ich war tot, dachte sie. Und dennoch lebe ich.
In Zeiten wie diesen häufen sich Rätsel auf Rätsel,
erwiderte die Kreatur ironisch.
Suviel lächelte, als sie in der Dunkelheit die verschwommenen Umrisse betrachtete. Rätsel wie du selbst?, dachte sie. Du erinnerst mich sehr an die hundeartigen Tiere, die ich im Reich der Trostlosigkeit sah, zu dem das Reich des Vater-Baumes geworden ist. Welcher Macht dienst du?
Ich diene keiner Macht,
erwiderte die Kreatur.
Ich bin nichts als ein Schatten meiner Selbst, die Erinnerung einer Erinnerung, das schwächste Echo einer vergessenen Größe. Nein, ich diene keiner Macht, und ich habe nur den geringsten Funken einer verschwundenen Nacht übrig behalten.
Bestürzt begriff Suviel. Erhabener Vater, sagte sie, vergebt meine Respektlosigkeit…
Nein, nein, nein,
unterbrach der Geist des Vater-Baums sie.
Keine Formalitäten und kein Zeremoniell. Für solche Bekundungen haben wir keine Zeit. Unser wütender Schattenkönig marschiert gerade in die Haupthalle der Basilika und hat unterwegs sechs Akolythen niedergemetzelt, nur aufgrund seiner schlechten Laune, verstehst du? Ganz Trevada ist in Aufruhr, und fast alle Wachen und Akolythen haben die unterirdischen Geschosse verlassen, also wäre es jetzt ein ausgezeichneter Moment, deine beiden Freunde zu befreien und einen Fluchtweg zu suchen. Einverstanden? Ja, aber … wie können wir gegen die Gier und den Zorn der Götter bestehen?
Indem wir dort zuschlagen, wo sie am stärksten sind,
erwiderte der Geist.
Die Zitadellen von Gorla und Keshada mögen zwar in deiner Welt existieren und auf dem Buckelgurt thronen, aber sie wurzeln im Reich der Finsternis. Durch eine von ihnen erreichen wir vielleicht das Herz der Macht des Herrn des Zwielichts, aber wir müssen alle Kräfte der Verteidiger von Besh-Darok mobilisieren, was auch das Kristallauge und den Mutterkeim beinhaltet…
Ihr wollt diese Zitadellen angreifen? Suviel war entsetzt.
Nur eine. Keshada. Sie ist nur so stark und unverletzlich wie jene, die sie befehligen. Nach Byrnaks Fall spaltet sich die Loyalität seiner Armee zwischen denen auf, die seinem General Azurech dienen, der jetzt über Gorla herrscht, und denen, die den Geistschatten folgen, die ihr Szepter über Keshada schwingen. Du dürftest wohl erkennen, wie diese beiden hier
…, der Geist des Vater-Baums deutete mit einem Nicken auf die Gefangenen, die wieder verstummt waren,…
sich an diesem Ort als nützlich erweisen könnten.
Ich würde ihn wieder in Gefahr bringen, dachte sie. Nach allem, was er durchgemacht hat…
Die ganze Welt ist voller Gefahren, Suviel. Zahllose Leben, gute, schlechte und indifferente, tanzen auf des Messers Schneide, und jeder, der zu kämpfen vermag, ist aufgerufen, es zu tun. Ich würde dir mehr verraten, aber die Zeit wird knapp. Kümmere dich um deine Freunde, und wir reden später weiter.
Die merkwürdige, hundeartige Gestalt verblasste, und die schimmernden Umrisse seines Schädels mit seinen angedeuteten Augen verschmolzen mit der bleiernen Dämmerung. Traurig und gleichzeitig erwartungsvoll drehte sie sich um und ging zu den Pfeilern mit den daran hockenden Gefangenen zurück. Der größere der beiden hob den Kopf.
»Ah, unser Besucher kehrt zurück.«
»Hat er etwas zu Trinken mitgebracht?«, fragte der andere. »Ein guter Schluck Wein wäre höchst willkommen.« »Leise«, flüsterte sie. »Es sind Feinde in der Nähe.«
»Ein Besucher, der spricht«, murmelte der Erste. »Natürlich ist es eine Frau.«
»Hmm, das ist Euch also auch aufgefallen, ja?«, erkundigte sich der andere.
Suviel schüttelte den Kopf, zog einen kleinen Docht aus ihrem Gewand und entzündete ein Wortlicht, einen winzigen strahlenden Fleck, der in der Luft über ihrem Kopf schwebte und ihr normalerweise als Leselampe diente. Dann
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