02 - Schatten-Götter
Keren vergaß diesen Umstand, als sie sich wieder aufrichtete und die gewaltige, schräge Tür vor sich sah, die fast die gesamte Seite der hohen Kammer ausfüllte. Im Licht der Stäbe der Dämonenbrut schien sie aus einem einzigen, beeindruckenden Quader aus gestreiftem, grauem Granit gehauen worden zu sein, dessen Oberfläche von spiralförmig angeordneten Reliefs von Menschen und Bestien geschmückt wurde. Keren bekam plötzlich Hunger. Sie setzte sich auf einen moosigen Felsbrocken und wühlte in den Taschen ihres Harnischs nach Dörrfleisch, während ihre beiden Begleiter den Stein untersuchten. Sie kaute gerade den zweiten Bissen, als Orgraaleshenoth »Hier« sagte und mit der Spitze seines Stabes gegen eines der gemeißelten Reliefs schlug. Ein Klopfen aus dem Stein antwortete, dann ertönte ein tiefes Mahlen, als der obere Rand der Tür nach innen schwang. Ihr Boden schwang nach außen, als sie sich auf einer horizontalen Achse in der Mitte öffnete. Als Keren das sah, zog sie rasch den Verschluss ihrer ledernen Trinkflasche ab, leerte sie gierig bis zur Hälfte, verschloss sie wieder und eilte hinter der Dämonenbrut her, die bereits hindurchschritten. Sie hatte die beiden kaum erreicht, als die Tür langsam wieder zufiel. Sie blieb stehen und verfolgte, wie sie sich mit einem lauten, hallenden Schlag schloss, dem eine Reihe von leisen, gedämpften Geräuschen im Inneren des Steines folgte. Als sie sich umsah, fluchte sie vor Überraschung. Die beiden von der Dämonenbrut hatten ihre menschliche Form abgestreift und ihre wahre Gestalt angenommen. Orgraaleshenoth war so, wie sie sich an ihn erinnerte, beinahe zweimal so groß wie sie, mit einem haarlosen Reptilienschädel und einem breiten, sehr muskulösen Oberkörper. Seine schwarzgrüne Reptilienhaut war rau, und über seinen Schultern ragten die gefalteten, mächtigen Schwingen hervor. Rakrotherangisal war etwa einen Kopf kleiner und seine Haut war schwarz und rot. Seine bernsteinfarbenen Augen jedoch blickten ebenso durchdringend und unergründlich wie die von Orgraaleshenoth. Er drehte sich zu der älteren Dämonenbrut herum. »Nachtjäger sind gekommen, um an der Seite der Theokratie von Jefren zu kämpfen. Untollan wird bald fallen.«
Orgraaleshenoth nickte. »Da Byrnak nicht mehr ist, wissen die Akolythen, dass die restlichen Schattenkönige jetzt unfähig sind, die Kontrolle zu ergreifen. Grazaan ist von seinem Fragment des Herrn des Zwielichts paralysiert, und Kodel hält sich verborgen …«
»Ystregul hat aufgehört zu existieren, und Thraelor hat sich selbst gelähmt…«
In ihren Worten schwang eine sarkastische Belustigung mit, Keren dagegen war entsetzt. »Was geschieht mit Domas und seinen Männern, ihren Familien …?«
»Es gibt viele Verstecke in Jagreag, und zudem wurden verschiedene Fluchttunnel vorbereitet«, erwiderte Rakrotherangisal. »Bedauerlicherweise nicht für uns. Kommt, der Hehre Pfad wartet …«
Sie schritten durch den flachen, steinernen Gang. Die beiden von der Dämonenbrut trugen noch ihre Stabkristalle, aber in ihren gewaltigen, mit Krallen bewehrten Klauen wirkten sie merkwürdig geschrumpft. Vor sich sah Keren einen fahlen, dunstigen Glanz, der allmählich erlosch, als sie sich ihm näherten. In dem diesigen Schleier konnte sie Einzelheiten einer schrägen Mauer am Ende des Ganges erkennen, mit komplizierten Mustern, die das Auge des Betrachters anzufletschen schienen. Die Größe des Mauerwerks dominierte alles, und als der Gang endlich endete, verlangsamte Keren unwillkürlich ihre Schritte, während sie sich staunend umschaute.
Domas hatte es einen »riesigen, abschüssigen Tunnel« genannt, während Rakrotherangisal von dem »Hehren Pfad« gesprochen hatte, aber beides konnte die gähnende Ungeheuerlichkeit dieses Schlundes nicht einmal annährend beschreiben. Sie schätzte, dass die Öffnung etwa zweihundert Meter breit und mehr als dreihundert Meter hoch war. Die gesamte Oberfläche war von gemeißelten Reliefs überzogen, und die glänzenden Wände reichten hinauf bis zu dem massiven Deckengewölbe. Über alles zogen sich die Reliefs halbnackter Gestalten, die im Wettstreit rangen, Schlachten schlugen oder im Triumph marschierten. Alles war in bleigrauen Stein gemeißelt, der im Laufe der Zeitalter brüchig und fleckig geworden war, und eine merkwürdige Helligkeit ausstrahlte, die keinen Ursprung zu haben schien.
Vom dem Gang, in dem sie standen, führte ein flacher Vorsprung mehrere Meter hinauf zum
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