02 - Schatten-Götter
bemerkte, »Quartiere und Ausbildungsräume« lagen. Kurz daraufblieb er auf einem Teil der Plattform stehen, die weiter aus dem Fels herausragte. Der sich verjüngende Vorsprung lag auf einer natürlichen Ausbuchtung, die wie ein schmaler Turm zum Fuß des Berges hinabreichte. Als Keren sich neben Domas auf den Vorsprung stellte, drang der eisige Wind durch ihre Rüstung und verstärkte das eisige Gefühl in ihrem Inneren noch. Trotzdem konnte dies die Wirkung des großartigen Panoramas nicht schmälern, das sich ihr bot. Das graue, schneebedeckte Vorgebirge, die dunklen Schluchten und die hügeligen, verschneiten Ländereien des südwestlichen Anghatan, die sich bis zum Birrdaelin-See erstreckten, lagen vor ihr. Keren nahm den Anblick in sich auf, die weite Leere, die rasch darüber hinweg ziehenden Wolken, die Vögel, die über ihnen kreisten, die nebligen, fernen Hochlande, selbst die scharfe, beißende Kälte. Sie wollte das Bild für immer in ihrem Gedächtnis einbrennen, denn schon bald würde sie in eine unterirdische Dunkelheit abtauchen und sich einem ungewissen Schicksal stellen.
Ein kleiner Vogel landete auf der niedrigen Mauer des Vorsprungs, ein Grünflügel, der sie und ihre Gefährten einen Moment betrachtete und dann trillernd und mit schwirrenden Flügeln davonflog. Keren sah ihm nach, als er sich in den Himmel über Untollan erhob und wünschte, sie könnte es ihm gleichtun.
»Keren Asherol«, sagte Rakrotherangisal. »Die Zeit ist gekommen.«
Sie drehte sich um und nickte. Domas legte ihr eine Hand auf die Schulter.
»Ich wünschte, ich wäre an deiner Stelle«, sagte er bedauernd. »Wenn auch nur, um von den Priesterkriegern der Jefren wegzukommen.« Er verbeugte sich förmlich vor ihr und der Dämonenbrut. »Möget Ihr den Weg des Lichts beschreiten.«
Die Dämonenbrut erwiderte seine Verbeugung ebenso feierlich. »Mögen deine Schwingen niemals versagen«, gab Orgraaleshenoth zurück.
Keren folgte der Dämonenbrut einige Schritte zu einem mit einem Vorhang verdeckten Durchgang und schritt hindurch. Auf der Schwelle blieb sie stehen und warf einen Blick auf Domas zurück, der zum Abschied die Hand hob. Sie erwiderte den Gruß, dann fielen die schweren Vorhänge hinter ihr zu.
In dem muffigen, schmalen Korridor dahinter war es warm und dunkel, und er war erfüllt von einem Geruch nach Talgkerzen, Leder und uraltem Staub. Gerade dachte sie, dass es hier nach einer alten Bibliothek roch, als sie um eine Ecke bogen und … in einer Bibliothek standen. Ein einarmiger Mann in einer Reiteruniform schaute von einem offenen Buch hoch, nickte ihnen ernst zu und vertiefte sich sofort wieder in seine Lektüre. Im Licht der wenigen Kerzen wirkte die Bibliothek winzig, doch als sie der Dämonenbrut zu einer großen Pforte folgte, sah sie, dass der dunkle Durchgang zwischen zwei Buchregalen in der gegenüberliegenden Ecke nur ein Gang zu einer endlos scheinenden Reihe von Regalen war, auf denen sich Bücher und Schriftrollen türmten.
Hinter den schweren Doppeltüren verlief ein Steg über einen mit Fackeln beleuchteten Gang, auf dem Bogenschützen und Speerträger zu den Bastionen eilten, und Verwundete zu den Heilern gebracht wurden. Am Ende des Stegs führte eine Treppe nach unten. Keren sollte im Laufe der nächsten Stunde noch viele solcher Treppen hinabsteigen, als sie in die finsteren, verfallenen Labyrinthe von Jagreag eintauchte. Sie durchquerten jetzt einen lichtlosen Abschnitt, und die Dämonenbrut ließ Kristalle auf ihren Stäben aufleuchten, die ein fahles Licht verbreiteten. Das genügte, damit sie sehen konnten, wohin sie traten, und Keren konnte Blicke auf den allgegenwärtigen Verfall werfen, dem sich alles beugen musste. Die Korridore waren krumme, ausgetretene Tunnel, deren schlammiger Boden mit grauem Moos bewachsen war, in dem sich weiße Spinnen tummelten. Sie passierten Kammern, die verfallenen Höhlen glichen, in denen unsichtbare Dinge herumhuschten, und benutzten Treppen, die vom ständig träufelnden Wasser in glitschige, unebene Hänge verwandelt worden waren. Überall roch es nach stockiger Feuchtigkeit.
Einmal führte der Weg sie auf einen schmalen Felsvorsprung hinaus, der eine Steilwand in einem Spalt des Berges überbrückte. Auf halbem Weg blickte Keren nach oben und sah einen länglichen, fahlen Ausschnitt des Himmels, während einige helle Tropfen Schmelzwassers hinabfielen. Dort, wo sie gingen, war es dämmrig, während unter ihnen ein eisiger, schwarzer Schlund
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