02 - Schatten-Götter
oberen Ende einer Treppe, die breit genug war, um eine ganze Armee darüber marschieren zu lassen. Obwohl die Stufen unberührt aussahen, waren sie mit zahllosen Brocken von Mauerwerk bedeckt, die kaum größer waren als ihre Hand. Ihre Begleiter stiegen bereits mit ihren gewaltigen und dennoch so graziösen Schritten die Stufen hinab, und sie beeilte sich, ihnen zu folgen, während ihr noch ein Merkmal dieses kolossalen Schachts auffiel. Riesige, dunkle Nischen waren in regelmäßigen Abständen in die Wände gehauen, eine doppelte Reihe von schattigen, leeren Öffnungen, die in die dunstigen, schwach schimmernden Tiefen hinunterführten. Außerdem fielen ihr die Sockel auf, die sich in jeder dieser Nischen befanden.
»Früher einmal«, erklärte Orgraaleshenoth, als errate er ihre Gedanken, »standen in diesen Nischen gewaltige Statuen des Herrn des Zwielichts. Nachdem Jagreag fiel, wurden sie alle an die Oberfläche geschleppt, zerstört und ihre Trümmer im Birrdaelin-See versenkt.«
»Man wusste, dass der Herr des Zwielichts gelegentlich seinen Abbildern Leben einhauchte«, fuhr Rakrotherangisal fort. »Also sorgten die Sieger dafür, dass keines übersehen wurde.«
Keren nickte verstehend. Während sie die Stufen hinunterschritt, starrte sie auf die leeren Nischen und stellte sich eine fünfzig Meter hohe Statue von Byrnak vor, die sie angrinste und beobachtete …
Sie fröstelte.
Das hier ist ein Ort der Geister.
Selbst die Luft schmeckte tödlich, kalt und metallisch nach dem feinem Steinstaub, den ihre Schritte aufwirbelten. Zudem hing etwas in der Luft, die Ahnung eines Hauches uralter Verderbtheit, über die Keren lieber nicht genauer nachdachte, als sie sich dicht neben der Dämonenbrut hielt.
»Mit was für Wärtern oder Hütern müssen wir uns auseinandersetzen?«, fragte sie.
»Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten«, erwiderte Rakrotherangisal. »Die uralten Zauber, die diesen Ort schützen, scheinen auf jeden Eindringling anders zu reagieren.«
Sie schaute ihn überrascht an. »Also waren schon andere vor uns hier?«
»Die Aufzeichnungen in Untollan sprechen von mehr als zwanzig solcher Versuche, seit die Festung während der Migration der Othazreg zum ersten Mal besetzt wurde. Das ist fünftausend Jahre her. Meist handelte es sich um kleine Banden von Glücksrittern, die örtlichen Legenden und Sagen folgten, oder Flüchtlingen, die einer Verfolgung entgehen wollten. Einmal wurde von einem Häuptling, der über Untollan herrschte, eine kleine Armee in die Tiefe geführt. Es gab nur sehr wenig Überlebende dieser Armee, die entkamen, und sie alle wussten eine andere Geschichte zu berichten.
Einer behauptete, sie wären von endlosen Wellen von seltsamen Spinnen und Insekten angegriffen worden, die sich in ihr Fleisch gruben und sie von innen töteten. Ein anderer meinte, groteske, ledrige Kreaturen wären den Nischen entstiegen, hätten seine Gefährten in die Luft gezerrt und sie dort zerfetzt. Noch einer kehrte vom Hehren Pfad an Geist und Seele gebrochen zurück und plapperte nur von Nebelwesen, die ihren Opfern das Blut aussaugten.«
Keren starrte geradeaus, auf die lange Treppe, die in dem fahlen Dunst vor ihnen verschwand. Nach den Schilderungen der Dämonenbrut kam ihr dieser Schacht, in den sie jetzt hinabstiegen, wie der ungeheure Schlund eines Mausoleums vor.
Dann entdeckte sie etwas weiter voraus etwas, das größer war als die Trümmer des Mauerwerks. Als sie sich ihm näherten, nahm es die Form einer zusammengekauerten Gestalt an, und Keren erblickte weiter entfernt noch mehr solcher Formen. Sie blieben davor stehen, und Keren erkannte, dass es ein uralter, verdorrter Leichnam war, dessen Kleidung nur noch aus modrigen Fetzen bestand, und dessen Haut sich wie eine Membran über braune, angefressene Knochen spannte. Eine Schicht aus grauem Staub bedeckte diese traurigen Überreste.
»Wie er wohl gestorben ist?«, murmelte Keren und hockte sich neben den Kadaver.
»Es gibt keine ersichtlichen Spuren von Gewalt«, erwiderte Rakrotherangisal und senkte seinen großen Schädel, um die Leiche genauer zu betrachten. »Keine Schnitte oder Löcher …«
»Es nähert sich jemand«, sagte Orgraaleshenoth leise und warnend.
Keren und ihre beiden Gefährten richteten sich auf, und sie schauten die Treppe hinunter.
Eine große, schmale Gestalt tauchte aus den nebligen Tiefen auf und stieg zu ihnen empor. Ihre Form blieb undeutlich, ihre Substanz schwarz und konturlos, aber sie
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