02 - Schatten-Götter
sofort die hektische Betriebsamkeit auf dem Pier auf. Jeder mögliche Platz an Mole und Pier war belegt, und ein kleiner Wald von Masten und aufgerollten Segeln schwankte in der Dünung an der hölzernen Mole.
Der Winter hatte seinen Einzug in Dalbar gehalten, aber so weit im Süden schneite es noch nicht stark genug, dass der Schnee liegen geblieben wäre. Nur ein paar graue Flecken und Streifen waren am Rand der Ladezone zu sehen. Als Keren ihren Fuß auf die abgenutzten Planken der Mole setzte, stieg ihr ein Gestank von verfaultem Fisch in die Nase, bei dem ihr die Augen tränten. Sie hielt sich die Nase zu und sah sich nach der Quelle des ekelhaften Geruchs um.
»Ah, das entzückende Aroma des Hafens von Scallow«, sagte Gilly, als er ihr auf festen Boden folgte. »Hat man ihn einmal gekostet, vergisst man ihn nie wieder.«
»Im Namen der Mutter!«, stieß Keren hervor. »Es war schon schlimm genug, mehr als einen Tag in diesem stinkenden Kahn zu verbringen …« Sie hielt inne, als sie sah, wie Seevögel hinter einer Wand aus Kisten landeten, die über der Mole vor dem nächsten Liegeplatz gestapelt waren, wo ein schäbig wirkendes Ketch mit einem dreieckigen Segel vertäut lag. Selbst der Kistenstapel konnte den großen, dampfenden Haufen von Fischköpfen und Innereien nicht verbergen, den eine flink arbeitende Gruppe von Fischern, welche den Fang ausnahmen, unaufhörlich vergrößerte. Keren drückte sich eine Falte ihres Umhangs vor das Gesicht und versuchte, mit kräftigen Schritten aus dem stinkenden Wind zu gelangen.
Die Mole grenzte an einen Streifen schlammigen, festgetretenen Erdbodens, auf dem weder Lagerhäuser noch Warenlager standen. Stattdessen wurden dort Pferdekarren und Wagen mit den Gütern aus den vertäuten Schiffen beladen. Einige kleinere Handkarren wurden von hageren Männern gezogen. Vermummte Straßenjungen erledigten den größten Teil der Arbeit, bis auf einige erwachsene Vorarbeiter, welche die wirklich schweren Kisten schleppten.
Hinter der betriebsamen Ladezone befand sich ein langer Graben, jenseits dessen schäbige, einstöckige Lagerhäuser lagen. Es war ein trostloser Anblick.
Keren ließ Gilly am Schiff zurück und fand eine Stelle an einem Zaunpfahl, wo es nicht nach Fisch stank. Sie lehnte sich einen Moment dagegen und atmete tief durch. Unter ihrem Kapuzenmantel trug sie ihr altes Schwert. Es war die Waffe, die sie vor all den Monaten aus Byrnaks Lager mitgenommen hatte. Wenn sie es berührte, spürte sie den lederumwickelten Griff und die Scharte, die sie immer hatte ausbessern wollen, die solide, gebogene, eiserne Parierstange und den dreieckigen Knauf mit seinen Intarsien.
Es war eine tröstliche Klinge, eine, auf die sie sich in vielen Kämpfen hatte verlassen können, auch wenn sie in letzter Zeit das leichtere Kavallerieschwert bevorzugt hatte, mit dem sie schnellere, präzisere Schläge ausführen konnte. Diese Waffe lag jetzt verbogen und geschmolzen in einem Gang tief unten im Oshang Dakhal, zusammen mit den Gewissheiten eines anderen Lebens.
Außerdem verwahrte sie in einem kleinen Lederbeutel unter ihrem Mantel auch das Pergament mit der Kopie des Raegal-Sagenliedes aus dem Kodex auf. Es schien ein Ritual zu beschreiben, durch das ein Durchgang ins Reich der Dämonenbrut geöffnet werden konnte. Sie hatte das Geschenk des Kaufmannes dankbar akzeptiert und den Kodex in Alaels Obhut zurückgelassen, bevor sie Besh-Darok verließ. Damals war sie fest davon überzeugt gewesen, dass dieses Lied über Raegal, wenn es erst einmal übersetzt war, das Mittel und die Hinweise lieferte, die sie brauchte, aber jetzt war sie sich dessen nicht mehr so sicher. Der Hinterhalt am Ostufer von Vannyons Furt und das erstaunliche Auftauchen einer Hexenmähre deuteten auf eine mögliche Alternative bei der Wahl ihrer Bundesgenossen. Allerdings würde ein solches Abkommen ebenfalls Probleme aufwerfen.
Den Worten der Hexenmähre zufolge hatte sie mit anderen ein magisches Refugium zwischen den Reichen gefunden, aus dem es von dieser uralten Himmelspferd-Anrufung gezerrt worden war. Aber wo sollte Keren jemanden finden, der uraltes Wissen über einen nicht mehr bestehenden Glauben besaß? Sie seufzte und schob diese Rätsel für den Moment beiseite, während sie den weiten Blick über den südlichen Stadthafen genoss. Scallow lag auf einer Landzunge zwischen einem langen Meeresarm und dem Sarlek-See. Vom fernen Nordufer aus mündete der See durch einen Flusskanal in die
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