02 - Schatten-Götter
ihn durchzuckte unwillkürlich der Gedanke, dass er und die anderen Schattenkönige nichts anderes waren als kompliziertere Geistschatten, die wie alle anderen auch von einer unsichtbaren Macht ihrer Bestimmung entgegengetrieben wurden …
Er schrak vor dieser beängstigenden Vorstellung zurück, wandte sich abrupt von dem Fenster ab und schritt den Korridor entlang. Sein glühender Ärger war ihm anzusehen. Ein Portal aus glänzendem Nebel brachte ihn zehn Stockwerke tiefer zu einem breiten Steg, von dem aus er eines von Keshadas gewaltigen Vorratsgewölben überblicken konnte. Gruppen von Offizieren und Handwerkern verbeugten sich oder salutierten überrascht von seinem Auftauchen, er jedoch ignorierte sie, während er die lauten, energischen Aktivitäten unter sich betrachtete. Einige Pferdegespanne flankierten eine breite, viereckige Öffnung in dem staubigen Holzboden, spannten die an Flaschenzügen befestigten Taue und zogen aus der Tiefe ein gekreuztes Gestell mit Kisten und Säcken von Nachschub. Es gab noch drei andere Ladeluken in dem gewaltigen Boden, die jeweils von Pferden und Arbeitern umringt waren, welche im Vergleich zu den immensen Ausmaßen des Gewölbes winzig wirkten.
Wortlos marschierte Byrnak über den Steg, während ihm seine Garde und der Standartenträger folgte, und trat mit ihnen durch das nächste schimmernde Portal. Er gelangte auf eine lange, geschwungene Empore, deren Wände aus glattem, aschgrau glänzendem Marmor bestanden. In einer Reihe von Nischen murmelten metallene Köpfe Verse in uralten, versunkenen Sprachen. Die äußere Wand war aus groben Ziegelsteinen erbaut, und darin saßen große, dreieckige Öffnungen, durch die er in die trockene, felsige Trostlosigkeit des Reiches der Finsternis blicken konnte.
Obwohl Gorla und Keshada in den Bergen um Besh-Darok aufgrund eines Zaubers von Crevalcor existierten, fußten ihre Grundmauern im Reich des Herrn des Zwielichts. Von dort aus speisten die Kräfte des Brunn-Quell die beiden Zitadellen, und jede Streitmacht, welche diese Mauern erreichte, würde ihre rohe Macht ebenso zu spüren bekommen, wie sie es darüber hinaus mit den zahllosen Verteidigern aufzunehmen hätte. Trotzdem nagte Ungewissheit an Byrnak, die von den auftauchenden Fetzen dieses verheerenden Krieges in den vergangenen Äonen des Morgengrauens der Welt ausgelöst wurden. Wenn die Magier nun im Besitz aller drei Artefakte waren, und sie dieses Spiel mit unbeugsamer List spielten? Wenn sie einfach auf den richtigen Moment warteten, um ihre gesammelten Kräfte in einem einzigen, vernichtenden Schlag loszulassen? Er schlug sich mit geballter Faust auf den Oberschenkel. Er musste mehr erfahren, und Kodel hielt dazu die Fäden in der Hand. Da sein Bruder im Augenblick die Festung der Akolythen besuchte, würde er ebenfalls dorthin gehen.
Während er durch den Korridor marschierte, betrachtete er die kleineren Stützpunkte, die sich im Reich der Finsternis in der Nähe der Mauern von Keshada drängten. Eine sich auf Wanderdünen vorwärtsbewegende Festung, die neben Keshada winzig wirkte, stand Mauer an Mauer mit einem viereckigen Fried, einem primitiven, konischen Turm und etwas, das wie ein befestigter Tempel aussah. Auf den zerfallenen Zinnen waren Wachen zu sehen, und als Byrnak zur Seite sah, erblickte er den Rand des silbergrauen Skelettwaldes, der von ockerfarbenen Sandstürmen durchzogen wurde. In der anderen Richtung sah er die Schulter eines hohlen Steinkolosses, der halb in den wandernden Sanddünen begraben lag. Direkt vor ihm fiel der Boden zu einer großen, ausgetrockneten Ebene ab, die von dem klaffenden, zerklüfteten Massiv des Bornbergs beherrscht wurden. In dessen Zentrum sich, wie er wusste, die auf Pfeilern ruhende Kammer des Brunn-Quell befand. Er hatte sie seit dem ersten Zusammenreffen mit dem Akolythenmeister Obax vor Monaten mehrfach aufgesucht. In letzter Zeit hatte er festgestellt, dass seine Kräfte genügten, um allein dorthin gehen zu können, wenn auch nur kurz. Jedes Mal hatte er in den flackernden, smaragdgrünen Geist der immerwährend sich verändernden Gestalt des Brunn-Quell gestarrt und versucht, die Geheimnisse auf seinem Grund zu entschlüsseln. Aber keine zwei Erscheinungen sahen gleich aus, obwohl er einige Male glaubte, ein dünnes, schwarzes Gewebe in dem unaufhörlichen Tumult zu erkennen. Er tat dies als eine Mattigkeit des Auges ab.
Er ging weiter und durchschritt ein anderes schimmerndes Portal, während er über die
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