02 Titan
XII
I n den ersten Wochen nach dem Ende seiner Amtszeit gierten alle danach, sich von Cicero erzählen zu lassen, wie er die Verschwörung von Catilina vereitelt hatte. Es gab keine vornehme Abendgesellschaft in Rom, die ihn nicht mit offenen Armen empfing. Er ging oft aus, er hasste das Alleinsein. Häufig begleitete ich ihn und stand dann zusammen mit anderen Mitgliedern seines Gefolges hinter seinem Speisesofa, während er die Tischgesellschaft mit Auszügen aus seinen Reden ergötzte oder mit den Geschichten, wie er am Wahltag auf dem Marsfeld seiner Ermordung entgangen war oder Lentulus Sura auf der Milvischen Brücke in die Falle gelockt hatte. Oft veranschaulichte er seine Erzählungen auf die gleiche Art, wie Pompeius es immer tat, wenn er eine alte Schlacht schilderte: Er schob Teller und Tassen hin und her. Wenn ihn jemand unterbrach oder ein anderes Thema anzuschneiden versuchte, wartete er ungeduldig auf eine kurze Gesprächspause, um mit einem strengen Blick an die Anwesenden den Faden wieder aufzunehmen. »Also , wie ich schon sagte …« Tagtäglich strömten die vornehmsten der vornehmen Familien zu seinem Morgenempfang. Er zeigte ihnen die genaue Stelle, wo Catilina an dem Tag stand, als er sich ihm als Gefangener angeboten hatte, oder jedes einzelne der Möbelstücke, mit denen er die Tür verbarrikadiert hatte, als die Verschwörer sein Haus belagerten.
Wann immer er sich im Senat erhob, um das Wort zu ergreifen, senkte sich respektvolles Schweigen über die Kammer, und nie ließ er eine Gelegenheit verstreichen, die Senatoren daran zu erinnern, dass sie sich überhaupt nur deshalb hier versammeln könnten, weil er die Republik gerettet habe. Kurz gesagt – und wer hätte gedacht, dass man das jemals über Cicero sagen würde? –, aus ihm wurde ein Langweiler.
Er hätte sich einen bei weitem größeren Gefallen getan, wenn er Rom für ein oder zwei Jahre verlassen hätte, um eine Provinz zu übernehmen. Sein geheimnisvoller Nimbus wäre während seiner Abwesenheit gewachsen, er wäre zur Legende geworden. Aber er hatte sein Recht auf eine Provinz an Hybrida und Celer abgetreten, und ihm blieb nichts anderes übrig, als in der Stadt zu bleiben und sich wieder seiner Tätigkeit als Anwalt zu widmen. Alles, was zur alltäglichen Gewohnheit wird, lässt auch die faszinierendste Persönlichkeit langweilig werden – sogar Jupiter höchstpersönlich, wäre man ihm jeden Tag auf der Straße begegnet. Allmählich verblasste Ciceros Glanz. Mehrere Wochen lang beschäftigte er sich damit, mir einen gewaltigen Bericht über sein Konsulat zu diktieren, den er Pompeius schicken wollte. Er nahm den Umfang eines Buches an und rechtfertigte jede seiner Handlungen bis ins kleinste Detail. Ich wusste, dass Cicero damit einen Fehler beging, und versuchte mit jedem Manöver, das mir in den Sinn kam, die Versendung des Berichts hinauszuzögern – ohne Erfolg. Ein Sonderkurier machte sich auf den Weg gen Osten, und während er auf die Antwort des großen Mannes wartete, begann Cicero die Reden, die er im Verlauf der Krise gehalten hatte, für eine Veröffentlichung zu überarbeiten. Er fügte viele schwülstige Passagen über sich selbst hinzu, vor allem in der Rede vor dem Volk, die er auf der Rostra am Tag der Festnahme der Verschwörer gehalten hatte. Ich machte mir deshalb
so große Sorgen, dass ich Atticus eines Morgens, als er gerade das Haus verlassen wollte, beiseitenahm und ihm einige Passagen vorlas.
»Dieser Tag, an dem wir alle gerettet wurden, ist, wie ich glaube, ein genauso strahlender und glückseliger wie der, an dem wir geboren wurden. Und so, wie wir den Göttern danken für den Mann, der unsere Stadt gegründet hat, so werdet ihr und werden eure Nachfahren den Mann in Ehren halten können, der unsere Stadt gerettet hat.«
»Was?«, sagte Atticus. »Ich kann mich nicht erinnern, dass er das gesagt hat.«
»Hat er auch nicht«, stimmte ich zu. »Sich mit Romulus zu vergleichen wäre ihm in der damaligen Situation absurd erschienen.« Ich senkte die Stimme und schaute mich um, ob Cicero nicht in der Nähe war. »In Anerkenntnis solch großer Verdienste, meine Mitbürger, verlange ich von euch keine Belohnung für meine Tapferkeit, keine sichtbare Auszeichnung, keine Statue zum Gedenken, ich verlange nur, dass dieser Tag auf immer seinen Platz in eurer Erinnerung haben möge und ihr den unsterblichen Göttern dafür dankt, dass in solch einem Augenblick unserer Geschichte zwei Männer
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