02 - Winnetou II
Der Wachtposten, ein Indianer, hinderte ihn natürlich nicht daran. Ich wartete. Es verging eine Viertelstunde, noch eine, eine dritte, und der Alte kehrte nicht zurück. Dann stand ich auf und schritt ihm nach.
Er war weit fortgegangen. Erst nach zehn Minuten erblickte ich ihn. Er stand am Bach und starrte in den Mond, mit dem Rücken nach mir gewendet. Ich gab mir keine Mühe, leise aufzutreten, doch dämpfte das Gras meine Schritte. Dennoch hätte er sie hören müssen, wenn ihn seine Gedanken nicht allzusehr in Anspruch genommen hätten. Erst als ich fast hinter ihm stand, fuhr er herum. Er riß den Revolver aus dem Gürtel und fuhr mich an:
„Alle Teufel! Wer seid Ihr? Was schleicht Ihr Euch hier herum? Wollt Ihr eine Kugel von mir ha – – –“
Er hielt inne. Er mußte geistig sehr weit abwesend gewesen sein, da er mich erst jetzt erkannte.
„Ah, Ihr seid es!“ fuhr er fort. „Hätte Euch fast eine Kugel gegeben, denn ich hielt Euch wahrhaftig für einen Fremden. Warum schlaft Ihr denn nicht?“
„Weil mir der Gedanke an Gibson und Ohlert keine Ruhe gibt.“
„So? Glaube es. Na, morgen kommen beide endlich in unsere Hände, oder ich will nicht Old Death heißen. Kann ihnen nicht länger nachlaufen, denn ich muß in der Bonanza bleiben.“
„Ihr. Weshalb? Handelt es sich um ein Geheimnis?“
„Ja.“
„Nun, so will ich nicht in Euch dringen und Euch auch nicht länger stören. Ich hörte Euer Seufzen und Murmeln und dachte, daß ich teilnehmen könne an irgendeinem Herzeleid, welches nicht von Euch lassen will. Gute Nacht, Sir!“
Ich wendete mich zum Gehen. Er ließ mich eine kleine Strecke fort, dann hörte ich:
„Master, lauft nicht fort. Es ist wahr, was Ihr von dem Herzeleid denkt; es liegt mir schwer auf der Seele und will nicht heraus. Ich habe Euch kennengelernt als einen verschwiegenen und gutherzigen Kerl, der mit mir wohl nicht allzu streng ins Gericht gehen will. Darum sollt Ihr jetzt einmal hören, was mich drückt. Alles brauche ich Euch nicht zu sagen, nur einiges; das übrige werdet Ihr Euch leicht dazu denken können.“
Er nahm meinen Arm unter den seinigen und schritt langsam mit mir am Bach hin.
„Was habt Ihr denn eigentlich für eine Ansicht von mir?“ fragte er dann plötzlich. „Was denkt Ihr von meinem Charakter, von – von – na, von dem moralischen Old Death?“
„Ihr seid ein Ehrenmann; darum liebe und achte ich Euch.“
„Hm! Habt Ihr einmal ein Verbrechen begangen?“
„Hm!“ brummte nun auch ich. „Die Eltern und Lehrer geärgert. Dem Nachbarn durch den Zaun in den Obstgarten gekrochen. Andere Buben, welche nicht meiner Meinung waren, weidlich durchgewalkt, und so weiter!“
„Schwatzt nicht dummes Zeug! Ich spreche von wirklichen Verbrechen, kriminell strafbar.“
„Auf so etwas kann ich mich freilich nicht besinnen.“
„Dann seid Ihr ein außerordentlich glücklicher Mensch, Sir. Ich beneide Euch; es ist eine Strafe, ein böses Gewissen zu haben! Kein Galgen und kein Zuchthaus reicht da hinan!“
Er sagte das in einem Ton, welcher mich tief erschütterte. Ja, dieser Mann schleppte das Andenken eines schweren Verbrechens mit sich herum, sonst hätte er nicht in diesem entsetzlichen Ton sprechen können. Ich sagte nichts. Es verging eine Weile, bis er fortfuhr:
„Master, vergeßt das nicht: Es gibt eine göttliche Gerechtigkeit, gegen welche die weltliche das reine Kinderspiel ist. Das ewige Gericht sitzt im Gewissen und donnert einem bei Tag und bei Nacht den Urteilsspruch zu. Es muß heraus; ich muß es Euch sagen. Und warum grad Euch? Weil ich trotz Eurer Jugend ein großes Vertrauen zu Euch habe. Und weil es mir in meinem Innern ganz so ist, als ob morgen etwas passieren werde, was den alten Scout verhindern wird, seine Sünden zu bekennen.“
„Seid Ihr des Kuckucks, Sir? Ihr habt doch nicht etwa gar eine Todesahnung?“
„Ja, die habe ich“, nickte er. „Ihr habt gehört, was der Gambusino vorhin von dem Kaufmann Harton erzählte. Was haltet Ihr von dem Bruder dieses Mannes?“
Jetzt ahnte ich das Richtige; darum antwortete ich in mildem Ton: „Er war jedenfalls leichtsinnig.“
„Pshaw! Damit wollt Ihr wohl ein mildes Urteil sprechen? Ich sage Euch, der Leichtsinnige ist viel gefährlicher als der wirklich boshaft Schlechte. Der Schlechte kennzeichnet sich bereits von weitem; der Leichtsinnige ist aber meist ein liebenswürdiger Kerl; darum ist er gemeingefährlicher als der erstere. Tausend Schlechte können
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