02 Winter am Ende der Welt
und Querstreben zwischen den Beinen, dann sind die nicht mit Holz ausgefüllten Teile, die Räume, die man nicht umrandet mit seinem Zeichenstift und die nachher doch als umrandetete Räume sichtbar sind, also die Zwischenräume, das sind die negative spaces . Und die sind total wichtig. Sie gehören genauso zum Bild wie die positiven Räume.
Und in diesem Moment wird mir klar, warum mir der Begriff eingefallen ist. Ich werfe nochmal einen Blick auf meine Nachrichten. Ja genau. So ist es.
Alle möglichen Leute haben mir alle möglichen Nachrichten geschickt. Der negative space ist Jorge. Denn Jorge hat sich nicht gemeldet. Er hat nicht auf meine Nachricht reagiert, er hat nichts an meine Pinnwand geschrieben. Was hat das zu bedeuten?
Also versuche ich Jorge anzurufen. Ich schlage acht Stunden drauf – in Lissabon ist es jetzt abends, das ist eine gute Zeit. Telefonzelle eins ist kaputt. Ich fahre also zum Cookshack und versuche es in Telefonzelle zwei. Auch erfolglos. Und zwar, weil April gerade ein Essen für heute Abend bestellt. Lasagne für zwei und Apple Pie mit Sahne. Lasagne und Apple Pie für zwei? Wen hat April zum Essen eingeladen? Womöglich Jeff. Die beiden sind vorhin zusammen die Straße hochgegangen.
Interessant. Macht Spaß, so ein Schreibtisch mit Blick auf die Straße, man kriegt wirklich was mit vom Dorf. Ersetzt geradezu eine Menge direkten Klatsch. Muss April mal fragen, was da läuft, und ob sie was mit Jeff hat. Endlich legt April auf und ich kann wählen. Und habe wieder den Anrufbeantworter dran. Hier ist der Anrufbeantworter von Jorge Monteiro und so weiter und so fort. Ich lege auf. Ich gehe in den Cookshack, wechsle ein paar Worte mit Kathleen und nehme mir einen Becher aus dem Regal. Gieße mir einen Kaffee ein, fülle mit Milch auf. Sehe mir die Kuchen an. Bin vernünftig und nehme keinen Nanaimo Bar oder Rocky Road Square, sondern einen ganz schlichten Blaubeer-Muffin. Aus Vollkornmehl. Und setze mich auf meinen Lieblingsplatz am Fenster.
Der Fjord ist dunkelblau wie immer. Die Berge sind schneefrei. Am anderen Ufer der Streifen Gelb, das ist das vertrocknete Gras. Dahinter, den Fluss hoch, liegt Johns Farm, wo jetzt Carl wohnt. Der Cookshack ist leer bis auf Kathleen und mich. Kathleen fragt mich, ob ich kurz den Diner hüten kann, sie will mal eben zur Post und ich sage, klar, kein Problem.
Als Kathleen weg ist, kommt Jeff. Er fragt nach Kathleen und ich sage ihm, dass ich die Vertretung bin und Jeff bestellt bei mir Essen für abends. Lasagne und Apple Pie. Mit Sahne. Für zwei. Oh la la. Da war meine Schlussfolgerung, was April und Jeff betrifft, offensichtlich falsch.
„Besuch zum Abendessen?“, frage ich.
Ganz die unprofessionelle Wirtin, die sich einmischt, obwohl es sie nichts angeht. Jeff gibt eine ausweichende Antwort und sagt mir nicht, wer zum Essen kommt. Da muss ich wohl noch eine Menge lernen. Ich notiere Jeffs Bestellung und lege den Zettel für Kathleen hin.
Ich versuche mir vorzustellen, wie das wohl so wäre, wenn ich so einen Diner hätte und ob das was für mich wäre.
Ich müsste wahnsinnig früh aufstehen und anfangen zu kochen und zu backen. Ich würde Rezepte aus Zeitschriften ausschneiden und ständig auf der Suche nach neuen Gerichten sein. Ich würde in der Küche experimentieren und womöglich den ganzen Tag Kuchenteig naschen. Ich würde den ganzen Tag im Diner sein und abends nach achtzehn Stunden auf den Beinen völlig erschöpft nach Hause gehen und in mein Bett fallen. Ich müsste zu allen freundlich sein. Ich müsste immer lächeln. Leute, die selber überhaupt nicht kochen können, würden womöglich mein Essen kritisieren.
Ich merke: Nein, das wäre es nicht.
Damit ist die Liste der Berufe, die nicht in Frage kommen, wieder ein Stückchen länger. Und die Liste mit den Berufen, die in Frage kommen, immer noch erschreckend kurz.
Okay, ehrliches Statement: weiterhin nicht existent. Nicht ein einziger Beruf auf dieser blöden Liste.
Das heißt, halt, dabei fällt mir ein: Was ist denn nun eigentlich mit diesem Museumscafé, will ich das machen oder will ich das nicht machen? Könnte ich das überhaupt? Ist das mein neues Leben? Will ich das? Und wenn ich es machen will, was würde das bedeuten? Würde ich für immer hier in diesem kleinen Ort bleiben? Für den Rest meines Lebens alleine? Eine ältere alleinstehende Museumsassistentin am Ende der Welt? Oder wäre ich gar nicht alleine, weil ja Carl an meiner Seite wäre? Und
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