02 Winter am Ende der Welt
machen will, und wenn ich es machen will, dann findet sich auch eine Lösung. Ich merke: Das kann ich im Moment gar nicht entscheiden. Ich lege den Gedanken auf Eis und öffne Facebook um mich abzulenken und um zu sehen, was die anderen alle so treiben.
Clara hat ein Foto vom Pier in Manhattan Beach reingestellt, Alan und sie auf dem Pier und hinter ihnen der Sonnenuntergang. Der klassische Abspann für den Anfang vom Leben im Glück.
Anna hat einen Link zu einem 40-Sekunden-Spot reingestellt. Von einer Sekretärin, die nach dreißig Jahren wieder anfängt zu arbeiten und schon habe ich einen sehr persönlichen Bezug zu diesem Spot. Das bin sozusagen ich. Der Link hat einen Vermerk: verständlich nur für Leute über vierzig Jahre. Die Frau sitzt am Schreibtisch und tippt, dann fegt sie mit ihrer Hand den Monitor vom Tisch. Klar – wie früher bei der Schreibmaschine, da musste man ja am Ende der Zeile immer dieses Ding verschieben. Ich sehe den Spot drei Mal, ja, das hat was. Ich kann mich noch gut an meine erste Schreibmaschine erinnern. Wir haben unsere Referate noch auf Matritze getippt und irgendwo unten im Uni-Keller an einer Maschine abgezogen. Schreibmaschinen sind zwar noch nicht so veraltet, dass sie für Johns Farm als Deko passen, aber sie sind eben doch veraltet. Und was dieser Spot mir über meine Berufsaussichten sagt – darüber denke ich lieber gar nicht erst nach.
Catarina hat Fotos reingestellt. Von einem Familientreffen in einem Restaurant. Ich kenne das Restaurant, es ist ein einfaches Lokal in der Avenida da Roma, mit einem großen Speisesaal im hinteren Teil des Restaurants, gut für Familientreffen, es gibt leckere portugiesische Hausmannskost zu günstigen Preisen und riesige Portionen. Man sieht einen langen gedeckten Tisch und an diesem Tisch sitzt meine Familie und isst. Ohne mich. Jorge mit Nicole und Tiago und Carlota, Jorges Mutter, Anna und Miguel. Und – ich fasse es nicht – da sitzt doch dieses junge Mädchen, diese Studentin, die ich damals an Jorges Tisch gesehen habe, im Restaurante O Retiro, der Anlass, wo ich dachte, jetzt reicht´s, das ist es, jetzt gehe ich, genug ist genug.
Eine Joana Almeida hat mir eine Freundschaftsanfrage geschickt. Wer soll das denn sein? Kenne ich nicht, merkwürdig. Da – ein paar Einträge an meiner Pinnwand.
Nicole schreibt: ruf den Papa bitte mal an, es ist wichtig
Anna schreibt: Hi Jasmin, ich denke, du solltest Jorge mal anrufen, bjs Anna
Teresa Monteiro schreibt: Seit ich ab und an Carlotas Kekse esse, sehe ich die Welt in bunteren Farben. Sag mir Bescheid, falls du neue Vanillekipferl brauchst. Oder hättest du lieber eine andere Sorte? Alles ist möglich – deine Schwiegermutter
Catarina schreibt: es ist wirklich wichtig – LG Catarina
Unglaublich, als ob sie dazu gehören würde, sagt mir, was ich mit meinem Fast-Ex-Mann machen soll. Na, ganz ehrlich, die kann mich mal. Und eine Nachricht von Clara, nicht an der Pinnwand, sondern in den Nachrichten: Sag mal, hat die Prinzessin dir geschrieben? Wegen verliebt und so? Haben wir irgendwelche schlauen Ratschläge für das Kind? C u – Clara
Ich sinniere über diesen Nachrichten. Was ist da los?
Irgendwas ist da doch los, oder. Mir kommt der Ausdruck negative spaces in den Sinn. Ich brauche eine Weile um meinem Kopf zu folgen.
Wo habe ich den Ausdruck gehört?
Und wieso fällt er mir jetzt ein?
Ich denke nach und mir fällt ein: Ich habe ihn von April gehört.
Ich habe April neulich endlich gefragt, warum sie immer in die Stadt zum Arzt fährt und April hat mir gestanden, sie geht zum Psychologen, weil sie immer noch deprimiert ist, wegen der Scheidung von ihrem Mann, und weil sie da irgendwie nicht so richtig drüber wegkommt, und deswegen hat sich dieses Prozac genommen. Ich habe gesagt, ich dachte, Peppermint bekommt das Prozac. Und April hat gesagt, Peppermint bekommt das Prozac mit Rindergeschmack, ich nehme das normale.
Na, jedenfalls hat sich April nach dem letzten Besuch beim Psychologen entschlossen, das Prozac abzusetzen. Für beide, also für sich und Peppermint. Und sie hat beschlossen malen zu lernen. Und um malen zu lernen, muss man erstmal zeichnen lernen. Also so eine Art Zeichnen-statt-Prozac-Aktion. Und dabei hat sie die negative spaces entdeckt. Das sind die Zwischenräume. Also das, was man nicht zeichnet. Das, was sich durch den Rest der Zeichnung ergibt. Also in klaren Worten: Wenn man einen Stuhl zeichnet, sagen wir einen Holzstuhl, mit Rückenlehne
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