02 Winter am Ende der Welt
direkt vor meinem Fenster. Der Fluss fließt schnell. Das Wasser ist dunkelgrün und strömt in kleinen Wellen zum Inlet. Ein kleines Stückchen weiter unten hängt ein rotes Tuch in einem kahlen Strauch und ich frage mich, ob das Tuch da neu hängt, oder ob es da schon immer hängt und ich es nur nicht gesehen habe.
Ich probiere ein paar Varianten durch, ehe ich da jetzt was an seine Pinnwand schreibe, was ich womöglich nicht mehr löschen kann.
Lieber Jorge, ich möchte dich zurück.
Na, das geht natürlich nicht, das ist zwar das, was ich möchte, aber es ist zu unvermittelt, so geht das nicht. Ein bisschen geschickter muss das schon kommen.
Lieber Jorge, ich danke dir für all die schönen Jahre und jetzt so im Nachhinein auch für die nicht so schönen Momente in all den Jahren, denn es kommt darauf an, dass die schönen Momente, also dass die ...
Nein, so geht das auch nicht.
Lieber Jorge – aus einem nebelverhangenen Regenwald am Ende der Welt der Dank dafür, dass es wenigstens keine unerwünschten Folgen gab – in Liebe, Jasmin
Ich lauere auf Antwort, aber ich weiß auch, dass es eine Weile dauern kann, bis Jorge das sieht und reagieren kann, schon wegen der verschiedenen Zeitzonen und auch, weil Jorge kein Typ ist, der dauernd im Internet rumhängt. Ich lese Claras Liebe und Lüge zu Ende und in der Tat, am Ende sind alle glücklich und versöhnt und zufrieden.
Ich gehe rüber zum Laden und siehe da – es gibt Shampoo. Sogar mehrere Sorten. Der Laster ist repariert, The Road gut in Schuss, der Pass schneefrei und die Shampoo-Auswahl richtig groß.
Jeff kommt in den Laden und kauft Mais für Popcorn und Packungen für Wackelpeter und ein paar Flaschen roten und weißen Sawmill Creek.
Und als ich an der Kasse stehe, kommt Carl in den Laden. Ich fühle seine Anwesenheit geradezu, schon ehe ich ihn wirklich sehe. Eine Art körperliche Reaktion, ich drehe mich um, und da steht Carl und lacht mich an. Er fragt, ob ich Lust habe, heute Abend zu ihm zum Essen zu kommen, raus auf Johns Farm, er könnte was für uns beide kochen. Und ehe ich weiter nachgedacht habe, habe ich zugesagt.
Ein Mann will für mich kochen. Nur für mich. Wann ist das zum letzten Mal vorgekommen? Das muss hundert Jahre her sein. Wenn es denn überhaupt je in meinem Leben vorgekommen ist. Und dann noch ein Mann wie Carl. Na klar, sage ich zu. Ich freue mich drauf. Und wie.
Jetzt ist die Frage: Was ziehe ich an? Casual natürlich, wir sind ja immer noch in der Wildnis. Es ist eine Einladung auf eine alte Farm. Und außerdem habe ich nicht wirklich was zum Anziehen. Und es ist ja auch nur eine Einladung zum Essen und kein Date. Oder ist es doch ein Date? Nein, es ist eine Einladung zum Essen. Oder?
Ein Blick in den Kleiderschrank und ich weiß: Ich habe im Grunde überhaupt nichts zum Anziehen (ein Problem, das ja fast alle Frauen kennen und das fast kein Mann versteht. Die Tatsache, dass da Klamotten im Schrank hängen, bedeutet noch nicht, dass man was zum Anziehen hat, nur damit das mal klar ist). Da liegen ein paar Jeans, T-Shirts und Pullover von mir, und auf den Bügeln hängen ein paar Blusen von Anna und ein paar Hemden von Jan. Auf dem Sessel liegt ein schöner dunkelblauer Seemannspullover mit Reißverschluss. Aber das ist es auch schon.
Ist vielleicht sogar ganz gut so, da komme ich nicht in Versuchung mich aufzubrezeln und mich zu blamieren, weil es nach mehr aussieht, während Carl vielleicht nur ein neues Rezept ausprobieren will und eine willige Testperson braucht oder sich auf seiner abgelegenen Farm langweilt, und da ist ihm jede Unterhaltung recht.
VIII
Blauer Himmel. Ein paar Wolken. Die Sonne geht hinter den Bergen auf und die Zacken von Rugged Mountain leuchten rötlich. Dann steigt die Sonne höher, das Licht breitet sich aus und das ganze Schneefeld strahlt rötlich. Sieht klasse aus. Ich bin früh wach, und das, obwohl ich doch so spät ins Bett gegangen bin. Aber ich bin überhaupt nicht müde. Der Fluss ist heute opaque-grün und spiegelglatt und ein Weißkopfadler sitzt im Baum gegenüber und sieht in mein Fenster.
Als Vorspeise gab es gestern Abend Ziegenkäse mit Honig auf Baguette im Ofen überbacken. Oder heißt es womöglich an Baguette, könnte ja sein, bei so einem edlen Essen. Als zweite Vorspeise gab es marinierte Austern und gegrillte Krabben. Austern und Krabben von Steve und Chris eigenhändig aus dem Inlet gefischt und bei Carl als Weihnachtsgeschenk abgeliefert. Der
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