0201 - Im Zentrum des Schreckens
zugeschoben.
Geisterhaft tanzte ein Flammenschein durch die offenstehende Tür und fiel in den Wohnraum, als Shao mit der brennenden Kerze zurückkehrte.
»Bitte, stellen Sie sie neben die Kugel. Aber nicht so, dass sie mich blendet«, bat Tanith.
»Natürlich.« Shao stellte die Kerze ab, wurde noch korrigiert und trat dann zurück.
Dann holte Tanith Atem. »Ich kann Ihnen nichts versprechen«, sagte sie leise. »Und ich hoffe, dass ich es mit seiner Hilfe schaffe. Der Geist des Nostradamus soll mir zur Seite stehen, nur durch ihn kann ich es schaffen.«
»Er hat sich beim ersten Mal auch nicht gezeigt«, sagte Suko.
»Nein, aber diesmal rufe ich ihn direkt an. Er ist immer der Führer des Mediums gewesen. Falls er irgendetwas für Lucille empfunden haben sollte, dann ist es seine Pflicht, sich zu melden. Denn sie soll nicht umsonst gestorben sein.«
»Das hoffen wir alle«, sprach Kara genau das aus, was die anderen dachten.
»Aber wirklich, versprechen Sie sich nicht zuviel von dieser Beschwörung oder Séance. Man kann den Geist nicht einfach rufen wie einen x beliebigen Menschen.«
»Der Versuch ist es wert«, sagte Suko. »Bitte…«
Es wurde still im Raum. Die Augen der Anwesenden waren auf Madame Tanith gerichtet. Shao, Kara, Myxin und Suko saßen so um die Frau herum, dass sie sie im Auge behalten konnten. Jeder sah, wie sich ihre Finger um die Kugel legten. Dann beugte sie ihren Oberkörper zurück, verengte die Augen zu Schlitzen und bewegte die Lippen. Zuerst drang kein Laut aus ihrem Mund, dann ein Flüstern, und wenig später konnte man die Worte verstehen.
»Du, der die Unendlichkeit durchwandert, für den Zeit und Raum nicht existieren, bitte, zeige dich. Zeige dich uns Menschen, die wir dich rufen und Hilfe von dir erflehen. Lass uns nicht im Stich, Nostradamus, großer Mann des Mittelalters, zeige dich durch diese Kugel und hilf uns, einen Menschen zu finden, der zwischen Zeit und Raum verschollen ist.«
Obwohl die Worte flüsternd gesprochen waren, hatten sie an Eindringlichkeit nichts verloren. Jeder verstand sie, und Shao lief sogar eine Gänsehaut über den Rücken. Was sie hier erlebte, schien ein Traum zu sein, allerdings ein realer Traum.
Die Kerze brannte ruhig. Gerade stach die Flamme der Decke zu. Dunkelrot war ihr Kern, heller die Außenränder. Sie war ein untrügliches Zeichen dafür, dass sich in diesem Raum eine absolute Windstille befand, ansonsten hätte sie geflackert.
Zehn Sekunden vergingen. Nichts geschah. Die Worte der Wahrsagerin schienen ungehört verhallt zu sein. Verklungen in der Ewigkeit.
Es zeigte sich keine Reaktion. Der Geist des Nostradamus schien nichts vernommen zu haben. Oder hatte er nicht hören wollen? Tanith schaute auf die Kugel. Die Blicke brannten sich an der Oberfläche des Glases fest. Es hatte den Anschein, als wollten sie sogar das Glas durchbohren und in die Mitte schauen, wo sich unter Umständen ein Bild zeigte. Vielleicht Nostradamus?
Niemand hörte Tanith. Aber sie strengte sich ungemein an, das war zu hören. Schwere Atemzüge durchbrachen die Stille. Ihr Gesicht war im Restlicht der Kerzenflamme zu sehen. Mit ihrem Rand streifte sie es, und jeder, der Tanith anschaute, sah den Schweiß auf ihrer Stirn. Sie gab sich Mühe, strengte sich an, und sie wollte das Beste für alle. Ihr Rücken bewegte sich unter den Atemzügen. Die Stirn schien fast auf der Kugel zu liegen, so weit hatte sich Tanith über sie gebeugt. Hatte beim ersten Mal der Kelch des Feuers reagiert, so blieb er jetzt stumm. Kein Leuchten zeigte an, dass er die Beschwörung annahm. Die Worte waren an ihm vorbeigeglitten.
Abermals rief Tanith den Namen des großen Geistes Nostradamus. Sie erinnerte auch an Lucille, sprach von deren Tod und auch von den Schuldigen. Würde Nostradamus reagieren? Oder ließ ihn das alles kalt?
Nicht nur Suko zuckte zusammen, auch die anderen, denn sie hatten ebenfalls den kalten Hauch bemerkt, der sich plötzlich im Zimmer ausbreitete. Die Flamme flackerte. Für einen winzigen Moment hatte es den Anschein, als würde sie verlöschen. Der Hauch, auch als Wind zu spüren, drückte sie nach unten, und sie glitt zitternd über den Talgrand der Kerze hinweg. Dann richtete sie sich wieder auf. Nur zögernd und dabei flackernd. Ruhig brannte sie nicht mehr weiter.
Jeder im Zimmer wusste, dass etwas Entscheidendes geschehen war. Die Aura existierte auf einmal. Eine Aura, die nichts mit der normalen Welt zu tun hatte, sondern aus dem Jenseits
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