0215 - Kugeln pfeifen Todeslieder
überfallen, die seinen Verstand glatt außer Funktion gesetzt hatte. Er war von dem blödsinnigen Gedanken beherrscht worden, daß er erst einmal so weit wie möglich wegfahren müßte.
Als er endlich wieder ruhiger wurde, war es längst zu spät. Da befand er sich schon auf der freien Landstraße und mußte weiterfahren. Ob er wollte oder nicht. Er konnte doch nicht den Wagen auf der freien Landstraße stehenlassen und selber vierzig oder fünfzig Meilen bis zu den Bergen zu Fuß gehen.
Natürlich hatte das Mädchen geweint. Zuerst hatte er sich fest vorgenommen, nicht mit dem Kind zu sprechen. Dann war ihm das Weinen auf die Nerven gegangen, und er hatte versucht, sie zu trösten.
Trösten! Er wollte ein Kind trösten, das gerade gesehen hatte, wie er den Wagen seines Vaters stahl! Ebensogut hätte er dem Neumond Arien Vorsingen und auf Beifall warten können.
Hundertmal hatte er sich schon gesagt, daß er anhalten und das Mädchen ausladen mußte. Aber hundertmal hatte etwas in seinem Gehirn dagegen gefragt:' Und wenn dich ein anderer Fahrer dabei beobachtet, anhält und dich zur Rede stellt? Womöglich einer, der stärker ist als du? Du hast keine Waffe bei dir…
Jetzt war er nur noch ein paar Meilen vom Unterschlupf der Military Gang entfernt, wie ein paar Spaßvögel ihren Verein getauft hatten. Die Zunge hing ihm im Mund wie ein ausgepreßter Schwamm, Rachenraum und Kehle waren so trocken wie ein neues Löschblatt. Er kam um vor Durst, vor Hitze, vor Grübeln, vor Selbstvorwürfen und Selbstmitleid. Der Colonel würde sonst was mit ihm machen, wenn er mit dem Mädchen ankam. Aber was sollte er denn tun?
Die Gebäude einer Farm tauchten vor ihnen auf. Halb besinnungslos vor Durst, stoppte Lanschitzky den Wagen. Nun war alles gleichgültig. Schlimmer, als er schon in der Patsche saß, konnte er gar nicht ’reinrutschen. Er mußte etwas zu trinken haben. Er mußte. Und wenn er dafür sonst was riskieren mußte. Wenn alles normal gelaufen wäre, hätte er sich am nächsten Drugstore einen Beutel mit sechs Cola-Flaschen geholt. Aber bisher hatte er nicht gewagt, irgendwo anzuhalten, wo es belebt war.
Das Hoftor war zusammengeschoben. Mit einer Reißzwecke war ein Zettel daran befestigt. »Bin im Office von Mutherfield, Hillery Martens.« Na schön, dachte Lanschitzky. Endlich habe ich einmal Glück. Niemand zu Hause. Ich werde mich vor eine Kaltwasserleitung stellen und zwei Eimer in mich hineinlaufen lassen. Brauche gar nichts anderes. Nur Wasser. Genügt schon. Richtiges kaltes Wasser.
Nur einen Herzschlag lang gab er dem aufkeimenden Gedanken Raum, sich noch nach Geld und Wertsachen in dem leeren Haus umzusehen. Aber entschieden wies er die Versuchung von sich. Der Colonel hatte ihnen eingeschärft, daß sie durch nichts auffallen dürften. Die Polizei sollte nicht auf ihre Spur gebracht werden, weil ein Idiot irgendwo eine Packung Zigaretten mitgehen ließ oder seinen Kaffee nicht bezahlte. War ja auch richtig. Man darf sich ein großes Geschäft nicht durch Kleinigkeiten verderben.
Das Hoftor war eine Formsache. Ein Tor, das einfach da war, weil ein Hoftor dazusein hat. Abschließen ließ es sich nämlich nicht. Lanschitzky konnte es mühelos aufdrücken.
Innerhalb einer halben Minute hatte er die Küche gefunden und stürzte an die Wasserleitung. Kalt und frisch strömte das Wasser durch seine Kehle. Er trank, hielt den Kopf darunter und ließ das eiskalte Quellwasser über Genick und Hinterkopf laufen, prustete, trank wieder, schleuderte sich Hände voll ins Gesicht und trank wieder. Er benahm sich wie ein Mann, der den Todesmarsch durch die Wüste gerade hinter sich gebracht hat. Als er wieder halbwegs normal war, atmete er tief, während er sich gedankenlos umsah.
Auf einem Abstellregal standen vier oder fünf leere Flaschen. Im Ausguß des Spülbeckens hatte sich gebrauchtes Geschirr angesammelt. In einer Ecke leuchtete ein Nelkenstrauß.
Lanschitzky grinste. Das ordentliche Leben! Arbeiten, schlafen, essen, arbeiten, schlafen, essen — und sterben. Und ein Leben lang ein Habenichts sein. Für fünfzig Jahre harte Arbeit fünfzig Jahre sparsam sein müssen. Wie die Leute das nur aushielten?
Er nahm eine leere Flasche und wollte sie mit Wasser füllen, um sie mitzunehmen. Da entdeckte er auf dem Tisch die Kaffeekanne unter der Haube, die sie warm halten sollte. Kaffee ist nicht schlecht, dachte er. Kaffee muntert auf. Das kann ich verdammt brauchen.
Er füllte sich die Flasche, schraubte
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