022 - Schreie aus dem Sarg
Nichts.
Sie hörte jedoch ein intensives Atmen, als würde die Dame des Hauses
unmittelbar hinter der Tür sitzen.
»Madame«, begann Claudine noch einmal. »Ich habe Ihnen etwas zu essen
bereitet. Es ist niemand von den Herren im Haus, so dass ich es Ihnen bringe.
Kann ich eintreten?«
Da drehte sich der Schlüssel im Schloss. Hart und knackend.
Aber noch immer keine Entgegnung. Claudine presste die Lippen zusammen. Das
ganze befremdete sie. Doch wenn Madames Geist verwirrt war, dann durfte man
diese Reaktion nicht sonderbar finden. Geistesgestörte verhielten sich eben
anders.
Sie drückte die Klinke herunter und stieß die Tür langsam mit dem Fuß auf.
Sie stand auf der obersten Schwelle. Ihr Körper war auf Abwehr eingerichtet,
schließlich war sie gewarnt, ohne jedoch im Grunde ihres Herzens recht an etwas
Schlimmes zu glauben. Seit Jahren arbeitete sie in diesem Haus. Sie gehörte
praktisch mit zur Familie. Wenn Monsieur und sein Sohn nichts zu fürchten
hatten, wenn Madame sie noch erkannte, dann war kaum anzunehmen, dass sie
ausgerechnet von Claudine nichts mehr wissen sollte. Das war doch absurd!
Sie stand auf der Türschwelle und starrte in die düstere Kammer, in die
kaum ein Strahl Tageslicht fiel.
Warum waren die Läden vor die beiden winzigen Fenster geklappt? Warum diese
Lichtlosigkeit?
In der Dämmerung erkannte sie die Umrisse eines einfachen Metallbettes und
eines schweren, dunklen Schrankes.
Die Luft in der kleinen Kammer war nicht sonderlich gut. Die seltsam
schwere, süßliche Atmosphäre eines Gewürzaufbewahrungsraums mischte sich mit
der Muffigkeit und der modrigen Luft, die einem in schlechtgelüfteten Kellern
entgegenschlug.
Es roch süß, alt, und es roch nach Tod!
»Madame? Können Sie mich hören?« Claudine beugte sich ein wenig nach vorn.
Sie streckte das beladene Tablett von sich und schritt hinein in die Dämmerung.
Die Geistesgestörte, die leise durch das Haus geschlichen war, hielt sich noch
immer verborgen.
Gleich hinter der Tür stand die kleine altmodische Sitzgruppe. Eine
verschlissene Couch und zwei dazu passende Polstersessel, die vor Jahrzehnten
einmal sehr kostbar gewesen sein mussten.
Die Garnitur hatte bis vor einiger Zeit noch in einem der Gästezimmer
gestanden, die der Herr des Hauses jetzt im altspanischen Stil eingerichtet
hatte.
Claudine musste zwei weitere Schritte gehen, um hinter die Tür blicken zu
können.
Im gleichen Augenblick streckte sich ein nackter, dunkler Arm vor. Mit
einem Knall schlug die Tür zu.
Claudine fuhr derart heftig zusammen, dass sie im ersten Schreck das
Tablett fallen ließ.
Klirrend zerbrach das Porzellan; heiße Suppe schwappte aus der in zwei
Hälften zerbrochenen Terrine und ergoss sich über ihre Füße.
Ein gellender Aufschrei kam über ihre Lippen.
Sie wich zurück und taumelte mehr, als dass sie ging.
Vor ihren Augen drehte sich alles wie ein Karussell. Wie in Trance nur
bekam sie mit, dass zwei weitere Männer anwesend waren. Fremde! Schwarze! Junge
Männer mit muskulösen Brustkörben, die sich grell bemalt hatten. Ihre Hemden
lagen auf dem obersten Sessel, die man in der hintersten Ecke des fast
quadratischen Raums aufeinandergestellt hatte. Direkt vor der alten Couch stand
ein Sarg. Ein einfacher Holzsarg, der mit Baststreifen umwickelt schien. Die
Streifen waren mehrfarbig bemalt.
Claudine war zu Tode erschrocken. Sie konnte die Dinge, die sich ihren
Augen boten, nicht glauben. Vergebens hielt sie Ausschau nach Madame Simonelle.
Sie war nicht da. Sie war nirgends. Lag sie etwa – in dem Sarg, dessen Deckel halb auf der Seite hing ?
Eine eiskalte Hand griff nach ihrem Herzen, als sie plötzlich daran dachte,
dass Madame Madeleine und der Sarg vielleicht ...
»Es war nicht unsere Absicht, Sie zu erschrecken, Mademoiselle«, sagte ein
Afrikaner zu ihr in einwandfreiem Französisch. Trotz der herrschenden Dämmerung
konnte sie an der Gestalt und dem Aussehen des Schwarzen erkennen, dass es sich
um einen Guinesen handelte.
»Leider waren Sie zu neugierig. Sie wurden aufmerksam, als wir ins Haus
eindrangen. Schade!«
»Wo ist Madame Simonelle?«
Der Farbige überging ihre Frage. »Da Sie aber nun schon in die Dinge
einbezogen wurden, müssen Sie auch die Konsequenzen tragen! Für uns steht sehr
viel auf dem Spiel, wir haben eine Mission zu erfüllen! Diese Mission wird nun
leider auch zu Ihrem Schicksal!«
Er kam auf sie zu. Die Scherben knirschten unter seinen Schritten.
»Lassen Sie die Finger von
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