022 - Schreie aus dem Sarg
beeinträchtigtes Sprachvermögen dies nicht mehr zuließ.
Simonelle hatte nichts Eiligeres zu tun, als an der nächsten öffentlichen
Fernsprechzelle anzuhalten und das Zentralkrankenhaus anzurufen. Er verlangte
Professor Gerlingcourt.
»Es ist da etwas, das ich in der Eile ganz vergessen habe zu fragen, Professor.
Wie kam Dr. de Freille eigentlich in Ihr Krankenhaus? Wie erfuhren Sie von
seiner plötzlichen Erkrankung?«
»Die Haushälterin rief uns an. Wir schickten einen Krankenwagen. Die beiden
Männer vom Roten Kreuz fanden den Kranken stocksteif und unfähig, sich zu
äußern, auf dem Boden seines Arbeitszimmers.«
»Danke!« Ohne ein weiteres Wort hängte er ein.
Er fuhr zur Wohnung de Freilles.
Wenn das stimmte, was er vermutete, dann würde er einen Hinweis in der
Wohnung des toten Arztes finden.
HOYA – die gängigste und die größte aller Tageszeitungen in Guinea!
Es musste de Freille, der sich über gewisse Dinge intensiv Gedanken gemacht
hatte, gelungen sein, ein Exemplar dieser Zeitung aufzutreiben. Was stand
darin? Er konnte es kaum erwarten, mehr zu erfahren. Die Haushälterin kannte
ihn. Sie ließ ihn eintreten. Ihr Gesicht war ernst.
»Sie haben doch Doktor de Freille besucht?«, lautete ihre erste Frage.
»Ja«, entgegnete Simonelle rau. »Ich fürchte, es besteht nicht mehr viel
Hoffnung ...« Er zuckte bedauernd die Schultern.
Er wandte sich ab, als er die Tränen in den Augen der Haushälterin
erblickte.
»Dr. de Freille hat mir etwas von einer Zeitung erzählt, Marie«, fuhr er
fort.
»Wissen Sie etwas von einem ausländischen Blatt? Es heißt Hoya .«
Sie sah ihn an. »Ich habe verschiedene Zeitungen in seinem Arbeitszimmer
gesehen. Bitte, kommen Sie doch mit, Monsieur! Will er diese Zeitung haben?«
»Ja, ja ...«
Das Zimmer war geräumig und gemütlich. Es stellte eine Mischung zwischen
Bibliothek und Arbeitszimmer dar, und an den zahlreichen Buchtiteln erkannte
Simonelle die unterschiedlichsten und vielfältigen Interessen, die de Freille
gehabt hatte.
Im Zeitungsständer lagen einige Magazine und Tageszeitungen. Er blätterte
sie rasch durch. Es befand sich keine Hoya darunter.
Simonelle presste die Lippen zusammen. Sollte er sich doch getäuscht haben?
Waren die Kombinationen, die sich geradezu angeboten hatten – falsch?
Die Türklingel ging. »Ich seh' schon nach. Drüben an der Fensterbank liegen
auch noch einige Tageszeitungen. Es sind, so glaube ich, die letzten Ausgaben
von heute Morgen.« Mit diesen Worten verschwand sie aus dem Zimmer und zog die
Tür hinter sich zu.
Simonelle hörte, wie die Haustür unten ging. Er kümmerte sich nicht weiter
darum. Mit fieberhaften Bewegungen sah er die Zeitungen durch, und mit
zitternder Hand zog er schließlich ein Blatt heraus, auf dem groß und dick die
Lettern prangten:
H O Y A
Rasch blätterte er die Zeitung durch. Sie trug das Datum von gestern. Das
guineische Blatt war in französischer Sprache abgefasst, die Amtssprache in
Guinea war.
Simonelle stieß auf den kleinen Bericht auf Seite 4. Er fiel ihm sofort ins
Auge, denn de Freille hatte die Notiz mit Rotstift gezeichnet.
Die Überschrift lautete: Polizei
steht vor einem Rätsel ...
Tochter eines französischen Industriellen
verschwunden.
Mit fiebernden Blicken überflog Simonelle den Bericht. Er kannte den Namen
Gerard Luison, er kannte auch dessen Tochter. Mit den Luisons waren sie oft in
Conakry zusammengewesen. Bei ihrem letzten Besuch in Guinea war Charlene
Simonelle sogar noch mit Nanette Luison ausgegangen. Die beiden Mädchen waren
etwa gleichaltrig.
Nanette Luison – auch verschwunden.
In dem kurzen Bericht, der sehr objektiv und klar gehalten war, kam zum
Ausdruck, dass offenbar eine Terroristenorganisation für die Entführung
verantwortlich zu machen sei. Zwischen den Zeilen stand zu lesen, dass man sich
an höchster Stelle ernstlich Gedanken mache, weil dies nun schon der vierte
oder fünfte Fall sei, wo Söhne und Töchter angesehener ausländischer Bürger
verschwanden und tot zurückgebracht wurden.
... auch hier , so hieß es
abschließend, ist ein Verbrechen in
seiner ›abscheulichsten Form‹, wie es sicher nur in bestimmten Volksschichten
zum Ausdruck kommt, nicht auszuschließen. Wir fürchten das Schlimmste ...
Am oberen Rand dieser Seite war, mit Bleistift notiert, eine Telefonnummer.
Davor, abgekürzt ein Name: Lu. –
Conakry ...
Hatte de Freille ein persönliches Gespräch mit Luison geführt? Allem
Anschein nach.
Er kam
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