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schwand. Er stand auf und ging zu dem anderen Lager. Dort zog er das feuchte Hemd aus, warf es in eine Ecke und legte sich hin, den nackten Leib an die kühlen, sauberen Laken pressend. Es dauerte lange, bis er einschlief.
Allerdings war ihm nicht allzu viel Ruhe vergönnt. Irgendwann stieß Eleanor in der Stille der Nacht einige durchdringende Entsetzensschreie aus, Sowohl Roger als auch Jean Merville setzten sich jäh aufrecht hin und griffen nach den Waffen. Roger hatte seinen Dolch zuerst in der Hand und sprang zu der Stelle, wo Eleanor lag. Ihre Augen waren geschlossen, und ihre Hände ausgestreckt, als versuche sie, jemanden abzuwehren. Indes war außer ihr, Roger und Merville niemand auf dem Dachboden.
„Lea! Lea!" Mit der freien Hand rüttelte Roger sie wach. „Was ist los?"
Sie riß die Augen auf und begann, hilflos zu zittern, ehe sie das Gesicht mit den Händen bedeckte. Seine Nacktheit nicht beachtend, ließ er das Messer fallen, und hockte sich neben Eleanor hin. Furchtsam klammerte sie sich an ihn und begann zu schluchzen. „Schhh . . . still, Lea . . . schhh ... es ist alles in Ordnung."
„Was bedrückt sie, Sieur?" fragte Merville ängstlich hinter ihm.
„Ich denke, ein Traum."
Jean bekreuzigte sich abergläubisch und neigte sich näher. „Demoiselle, bist du in Ordnung?"
„Ja", antwortete Roger an ihrer Stelle. „Aber sie ist verängstigt. Lea . . . Lea, wovor hast du Angst?"
Sie schluckte und hielt den Atem an, ohne Roger loszulassen. „Es war Belesme, Roger. Ich habe ihn so deutlich gesehen, als hätte er in diesem Raum gestanden. Er griff mich an."
„Nun, wie du siehst, ist er nicht hier. Es war nur ein Traum. Ich bin hier und gebe dir Sicherheit."
„Roger ..." Eleanor klammerte sich noch fester an ihn und schluckte schwer. „Ich habe dich zu Belesmes Füßen in deinem Blut liegend gesehen."
„Du lieber Himmel! Bei den Minnemalen Christi, Lea! Du bist jemandem ein großer Trost. Hör zu, das war nur ein Traum." Roger drehte sich zu Merville um und befahl: „Gib mir mein Hemd. Ich bin so nackt, wie Gott mich schuf."
Langsam gewann Eleanor die Selbstbeherrschung zurück, und die Angst vor einem allzu realen Traum begann zu schwinden. Wenngleich die Sonne noch nicht aufging, war es auf dem Dachboden ziemlich hell, und Eleanor konnte sehen, dass nur sie und die beiden Männer anwesend waren. Verlegen ließ sie Roger los und senkte peinlich berührt den Kopf.
„Es tut mir Leid, Bruder. Ich wollte euch nicht aufwecken."
„Nein, Lea, das ist in Ordnung." Er blickte auf seine nackten Schultern, wo ihre Fingernägel sich ihm in die Haut gegraben und hässliche rote Spuren hinterlassen hatten. „Du lieber Himmel, aber für eine so kleine Maid bist du ziemlich kräftig." Er zog das Hemd an und legte sich wieder neben sie.
Von unten konnten die Schritte von Männern vernommen werden, die herbeiliefen.
Jemand stand an der untersten Sprosse der Leiter und rief hinauf: „Ist die Zeit deiner Frau gekommen? Sollen wir Gundrade rufen?"
„Nein, das war nur ein schlechter Traum", rief Roger hinunter. „Mit meiner Gemahlin ist jetzt alles in Ordnung."
Die Neugierigen verschwanden einer nach dem anderen, und im Stall wurde es wieder still. Schweigend lagen Eleanor, Roger und Merville da, ein jeder im Ungewissen über die Bedeutung von Eleanors Traum. Es war so still, dass man die Zeit wie den fallenden Sand in einer Sanduhr verstreichen hören konnte. Schließlich hielt Eleanor das nicht mehr aus und setzte sich auf.
„Was ist diesmal los?" fragte Roger leise.
„Nichts. Ich kann nicht schlafen."
Widerstrebend setzte auch er sich auf. „Jean, bist du wach?"
„Ich könnte kaum etwas anderes sein, Sieur."
„Ja." Roger stand auf und ging zum Fenster am anderen Ende des Raums. „Nun, ich denke, die Sonne wird bald aufgehen. Bis wir das Frühmahl einnehmen, wird es hell sein. Du hast einen langen Ritt zu den Condes vor dir, und wir können Saint Valéry bald erreichen, wenn wir zeitig aufbrechen."
Merville stemmte sich mühsam hoch und griff nach seinen braunen Beinkleidern.
Eleanor errötete und drehte den Männern den Rücken zu, während sie sich anzogen. Als sie an der
Reihe war, versicherte Roger ihr, dass man nicht die Absicht habe, ihr zuzusehen.
Widerstrebend stand sie auf und befestigte das dicke Bündel um die Taille, ehe sie ihr Unterhemd glatt strich und das glanzlose blaue Kleid darüber zog.
„Du lieber Himmel, aber sie sieht zu klein aus, um schwanger zu
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