0226 - Tokatas Erbe
weiter darauf, schob es auch auf die Kraft der Sonne, aber als sich das Brausen verdichtete und eine gewisse Form annahm, wurde Shao aufmerksam.
Ja, das war eine Stimme. Sie vernahm sie sogar sehr deutlich, denn sie gehörte einer Frau. Mit Namen stellte sie sich nicht vor, aber Shao hatte das Gefühl, als würde sie die Unbekannte, die da zu ihr sprach, schon sehr lange kennen.
»Hüte dich vor ihm, denn er ist unterwegs zu dir. Ich kann dir nicht helfen, weil ich eine Gefangene bin, aber du bist mein Ebenbild, du siehst so aus wie ich, und wenn er dich tötet, dann hat er auch ein Stück von mir getroffen.«
Shao zeigte sich verwundert. Das Zucken ihrer Lippen deutete es an, mehr nicht. Und auch Suko merkte nichts. Er hatte Shao seinen breiten Rücken zugedreht und beschäftigte sich mit ihren Knien, die er kreisend einrieb. Er wunderte sich nur, daß seine Freundin so ruhig, fast statuenhaft liegenblieb, auch wenn er Stellen berührte, bei denen sie normalerweise zusammengezuckt wäre.
»Wer bist du?«
Shao flüsterte die Worte. So leise, daß Suko sie nicht verstehen konnte.
»Ich will dir meinen Namen nicht nennen, aber du bist diejenige, die aus einer langen, unendlichen langen Ahnengalerie abstammt, deren Urmutter ich war. Du weißt es nicht, vielleicht wirst du es nie mehr wissen oder überhaupt kennenlernen, denn du schwebst in einer großen Gefahr. Deine Vorfahren haben die Abstammung längst vergessen. Sie wußten nicht, woher sie wirklich kamen. Sie stammen längst nicht aus dem Land der aufgehenden Sonne, wie du immer angenommen hast, aber mit der Sonne hast du etwas zu tun. Hüte dich, hüte dich vor Susanoo, denn er wird kommen, um auch den letzten Sproß der Jahrtausende alten Ahnenreihe zu vernichten.«
»Bin ich das?« fragte Shao.
»Ja, du bist es. Das kommt alles sehr plötzlich, ich gebe es zu. Aber hüte dich, mehr kann ich dir auch nicht sagen.«
Dann war die Stimme verschwunden, und Shao konzentrierte sich wieder auf Sukos weiche Hände. Sie waren bei ihren Füßen angelangt. Ruckartig setzte sich die Chinesin auf.
Suko wandte den Kopf.
»Was ist los?« wollte er wissen, wobei er die Stirn runzelte.
Shao nahm die dunkle Brille ab und blinzelte verwirrt.
»Ich glaube, ich habe geträumt.«
»Hoffentlich was Gutes.«
»Nein, nein, ein völlig wirres Zeug. Von einer unheimlichen Gefahr, die auf mich zukommt.«
»Wieso?«
»Da war eine Stimme.«
»Was?«
»Ja, zu mir hat eine Stimme gesprochen. Also nicht richtig geredet, sondern mehr geistig, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Kaum.«
»Telekontakt.«
Suko schraubte die Ölflasche zu.
»Jetzt noch mal von vorn«, sagte er. »Was ist da genau geschehen?«
»Also es war so..«
Shao berichtete, was ihr die fremde Stimme mitgeteilt hat.
Suko war natürlich skeptisch. Das zeigte er auch, indem er die Stirn krauste.
»Sie hat mit dir über deine Vorfahren gesprochen?«
»Ja, und daß alles nicht so gewesen sei, wie wir es uns immer vorgestellt haben.«
»Seltsam, sehr seltsam.«
Suko schüttelte den Kopf, als könnte er nicht begreifen.
Shao kreuzte plötzlich die Arme vor der Brust. Über die Haut rann ein Schauer.
»Du, ich habe Angst, Suko. Wirkliche Angst, das mit der Stimme war doch nicht normal. Nein, das kann ich nicht glauben. Suko, da steckt etwas dahinter.«
»Möglich.«
Der Chinese stand auf. »Nur was?«
»Eine Gefahr aus der Vergangenheit. Und zwar aus der alten Vergangenheit, die aber jetzt zuschlägt.«
»Nicht nur vielleicht. Geträumt habe ich nicht. Das war eine Warnung.« Shao schüttelte sich.
»Laß uns lieber gehen.«
»Glaubst du, daß hier etwas passiert?«
»Weiß ich nicht, aber ich habe Angst.«
»Okay, gehen wir.«
Suko bückte sich, um die Decke einzurollen, die Shao bereits verlassen hatte. Plötzlich schrie die Chinesin auf. Sofort spritzte Suko hoch.
Seine Freundin stand auf dem Fleck und hatte den rechten Arm ausgestreckt. Mit der Spitze des Zeigefingers deutete sie auf den Wald, der hinter dem Zaun begann.
Auch Suko schaute hin, und die in der Nähe lagernden Menschen ebenfalls. Es war gewaltig. Eine düstere Wolke hatte die Sonne verdeckt und saugte ihre Strahlen auf. In der Wolke war eine schreckliche Gestalt zu sehen.
Ein grünhäutiger Flügelmensch mit mächtigen Schwingen, knallroten Augen und einem gewaltigen Schwert in der Hand. Die Gestalt interessierte Suko nicht besonders. Etwas anderes war wichtiger, die Waffe, die er in seiner Rechten hielt. Das furchtbare
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