024 - Die Rattenkönigin
sie.
Als das Licht einer Straßenlaterne auf das Gesicht der Alten fiel, sah Julie eine Hakennase, kleine, verschlagen dreinblickende Augen unter dichten, grauen Brauen, einen breiten Mund mit bräunlichen, aufgesprungenen Lippen – und rundherum unzählige Runzeln und Furchen. Aus Warzen sprossen dichte Haarbüschel.
»Ich habe es kommen sehen«, fuhr Arline fort. »Nicht alle lassen sich Anselms Betrügereien so gefallen wie Sie, Julie. Ich muß Sie warnen. Die Ratten werden wiederkommen, wenn …«
Julie schrie auf. Sie riß sich los, warf sich gegen die Tür, die quietschend aufschwang und stürzte in den Garten auf das erleuchtete Haus zu. Hinter ihr hörte sie das Tok-Tok eines Stockes. Als sie sich umwandte, sah sie, wie die Alte ihr humpelnd folgte. Sie schrie wieder. Als sie das Haus erreichte, ging gerade die Tür auf. Anselms schlanke Gestalt erschien darin. Sie fiel ihm schluchzend in die Arme.
»Na, na!« machte er und strich ihr sanft über das blonde Haar.
»Die Alte«, sagte Julie gegen seine Brust gepreßt, »die Alte verfolgt mich. Sie hat mir mit den Ratten gedroht, und …«
»Aber da ist niemand«, erklärte Anselm. »Sieh selbst! Dreh dich um!«
Julie schüttelte hartnäckig den Kopf und preßte sich noch fester an ihn.
»Dreh dich um!« sagte er in befehlendem Ton. Er packte ihr Gesicht am Kinn und zwang sie, den Kopf herumzuwenden.
Der Garten war leer.
»Aber …«
»Es sind die Nerven«, meinte Anselm nun wieder in begütigendem Tonfall. »Komm ins Haus! Nach einem Drink wirst du dich wieder wohler fühlen. Und dann wirst du über alles lachen.«
Sie folgte ihm ins Haus und durch die Diele in das modern eingerichtete Wohnzimmer. Dort stand ein Fremder mit einem Glas in der Hand. Er war etwas kleiner als Anselm, wirkte bulliger und war auch an die zehn Jahre älter. Er hatte schwarzes Haar, und in seinen braunen Augen spiegelte sich nur Härte. Das kantige Gesicht hatte brutale Züge – selbst jetzt, wo er unverbindlich lächelte.
»Meine Verlobte, Julie Hanegem«, stellte Anselm van Riems vor. »Das ist Marvin Cohen, ein Engländer. Tu ihm den Gefallen und sprich englisch.«
»Es trifft sich gut, daß ich Ihre Bekanntschaft mache, Miß«, sagte Marvin Cohen. »Ihr Verlobter hat mir von Ihrem Erlebnis in dem Foto-Atelier erzählt – das heißt, ich war dabei, als er den Anruf erhielt. Hatten Sie früher schon ähnliche Erlebnisse mit Ratten?«
Julie öffnete den Mund, schüttelte den Kopf und blickte hilfesuchend zu Anselm. »Was will dieser Mann hier?«
»Er untersucht den Tod von vier jungen Männern, die wir sehr gut gekannt haben«, antwortete Anselm; sein schönes Gesicht blieb dabei ausdruckslos, nur seinen sinnlichen Mund umspielte die Andeutung eines spöttischen Lächelns.
»Du meinst …«, begann Julie.
Anselm nickte.
»Ich bin auch mit Auskünften über Carl de Groot zufrieden«, sagte Marvin Cohen schnell. »Dieser Fall liegt erst drei Tage zurück und dürfte noch gut in Ihrer Erinnerung sein.«
Während Julie zur Bar ging und sich einen Drink mixte, sagte sie: »Muß ich seine Fragen beantworten, Anselm? Ich bin noch immer ganz erschöpft und fühle mich nicht in der Lage, über diese Dinge zu sprechen.«
»Du hast recht, Julie«, sagte Anselm und wandte sich Cohen zu. »Eigentlich habe ich Ihnen schon alles gesagt. Julie könnte dem nichts mehr hinzufügen. Carl war mein bester Freund. Zwischen uns hat es keine Geheimnisse gegeben. Ich kann mir seinen Tod nicht erklären. Warum sollte er, nur mit einem Morgenmantel bekleidet, nachts in die Kanalisation hinuntergestiegen sein?«
»Ein Zeuge hat ihn um Mitternacht gesehen«, sagte Cohen.
»Aber das ergibt doch keinen Sinn!«
»Vielleicht doch«, meinte Julie und drehte sich um. »Hast du von Carls seltsamen Träumen erzählt?«
Julie unterbrach sich, als sie sah, wie Anselms Gesicht vor Wut rot anlief.
»Das ist ja interessant!« hakte Cohen sofort ein. »Welche Träume?«
»Das ist doch bedeutungslos«, sagte Anselm schroff und warf Julie zornige Blicke zu. »Die Träume haben mit seinem Tod nichts zu tun. Wir haben auch der Polizei nichts davon erzählt.«
»Aber mir werden Sie davon erzählen«, sagte Cohen kalt. »Oder ist es Ihnen lieber, wenn ich Ihnen Kommissar Rejnbrink auf den Hals hetze?«
Anselm ging zur Bar, wie um sich ebenfalls einen Drink zu mixen. Als er bei Julie war, holte er plötzlich aus und gab ihr eine Ohrfeige, daß sie in einen Sessel fiel. Cohen war mit zwei Sätzen bei
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