025 - Die toten Augen von London
Pinsel anfühlte. Sie war mit ihrem Werk zufrieden. Jetzt glaubte sie ein Geräusch im Gang zu hören, eilte an die Tür und schaltete den Strom ein. In dem Halbdunkel suchte sie nach ihrer Handtasche, nahm ihre Lederhandschuhe heraus, zog umständlich einen nach dem andern an, ständig darauf achtend, mit dem Leitungsende nicht in Berührung zu kommen. Den Lampenschirm am Boden schob sie mit dem Fuß beiseite. Den Drahtpinsel vor sich hinhaltend, wartete sie ängstlich in der Mitte des Zimmers. Dann ging die Tür auf.
»Da bin ich wieder, Puppe!«
Sie atmete stoßweise vor Gespanntheit. Er wußte nicht, daß das Licht nicht brannte, für ihn war es ja ohnehin dunkel. Eine Zeitlang machte er keinen Versuch, sich ihr zu nähern. Undeutlich zeichneten sich die Umrisse seiner riesigen Gestalt ab.
»Tony hat danebengeschossen«, teilte er mit. »Danebengeschossen!« wiederholte er verächtlich. »Wenn ich sehen könnte, hätte ich den Hund bestimmt erwischt!« Seine Stimme wurde leiser. »Komm her, Püppchen!« Er kicherte und kam langsam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu.
Dann sprang er flink wie eine Katze vor und packte sie an der Schulter. Sie warf sich zurück. Seine andere Hand griff nach ihr und berührte die ausgefransten Drahtenden. Mit einem Schrei, halb Kreischen, halb Gebrüll, sprang er zurück.
»Was tust du?« schrie er wild. »Verfluchte Hexe, was hast du getan? Willst mich wohl stechen wie das Schwein neulich?«
Er befühlte sich selbst, um nach einer Verletzung zu suchen, und dann sprang er von neuem auf sie los. Jetzt trafen die Polenden sein Gesicht. Wie ein Holzklotz stürzte er zu Boden. Sie hörte, wie er sich bewegte.
»Was ist denn das? Was ist das bloß?« flüsterte er. »'nen blinden Mann so zu behandeln! Du verfluchte ...«
Seine Hand packte sie am Fußgelenk und riß sie zu Boden. Aber wieder berührten die elektrischen Drähte sein Gesicht. Er kreischte wie ein wildes Tier und wälzte sich auf dem Boden Er war jetzt wahnsinnig vor Wut und Angst - ein wimmernder Verrückter. Immer wieder fiel er sie an, immer wieder kamen seine Hand, sein Gesicht, sein Hals mit dem Strom in Berührung. Dann brach er zusammen, blieb regungslos liegen.
Mit zitternden Fingern durchsuchte sie seine Taschen. Sie fand den Schlüssel und einen Revolver. Sie tastete nach dem Schlüsselloch, die Tür ging auf, sie befand sich in einem Gang, der nach rechts und in ein helleres Zimmer mit zwei Fenstern führte. Immer noch war sie in Todesangst - jetzt hatte sie ihr bestes Verteidigungsmittel verloren.
Der Durchgang in der Wand war leicht zu finden. Wie geschickt die Geheimtür von der Schlafsaalseite aus auch getarnt war - hier jedenfalls lag sie sichtbar vor Augen. Diana zog an einem Handgriff, das eingefaßte, schwere Steinstück ließ sich zurückziehen und wie ein Türflügel ausschwingen. Sie schlüpfte durch die Öffnung. Der Detektiv, der in der Mitte des Schlafsaals stand, fuhr herum, den Revolver in der Hand, als sie aus dem Wandschrank trat. »Mein Gott! Miss Ward!« rief er. »Wo kommen Sie her?«
24
Die wenigen Worte, die Diana Ward hervorstieß, brachten ein halbes Dutzend Detektive auf die Beine. Sie stürzten in den Schlafsaal, verschwanden im Wandschrank und kletterten durch die steinerne Geheimtür, die noch halb offenstand.
Larry übergab das Mädchen Harveys Obhut und eilte hinterher. Das Zimmer, das Diana beschrieben hatte, war leer. Larry hielt sich nur einen Augenblick darin auf, schaltete den Strom aus und folgte den anderen. Es bestand kein Zweifel, daß dieser ganze Gebäudeteil, der einen so unbewohnten Eindruck machte, regelmäßig benutzt wurde. Sie fanden hier Zimmer, die durch dünne Wände in fensterlose Räume abgeteilt worden waren, in denen man sich nachts bei Licht aufhalten konnte, ohne daß der geringste Lichtschein nach außen drang.
Der blinde Jake hatte die reine Wahrheit gesagt, als er die vielen Ausgänge des Hauses erwähnte. Einen fanden sie im Keller der in einen alten Abzugskanal für Regenwasser mündete. Ein zweiter führte direkt in den Hof, wo Larry die Garage gefunden hatte, und ein dritter endete in der Küche von Todds Heim.
Larry mußte sich klarmachen, daß das Wild entwischt war, und begab sich in den Trakt des Blindenheims zurück, um Diana zu suchen. Er fand sie im Büro des Vorstehers neben Harvey, der mit einer Handfessel ihr Handgelenk an das seine geschlossen hatte - er wollte kein neues Risiko mehr eingehen. Lachend hob sie die gefesselte
Weitere Kostenlose Bücher