0259 - Ich stürmte den rollenden Sarg
große Stunde war jetzt gekommen, und sie verließ lautlos das Abteil.
Zu beiden Seiten war der Gang leer. Sie mußte sich nach rechts wenden, um zu ihrem Ziel zu gelangen. Nur schwach war der Gang beleuchtet.
Vor dem entsprechenden Abteil verhielt der Wertiger seinen Schritt. Die Vorhänge hingen zwar vor den Scheiben, dennoch war ein so großer Spalt frei, daß die Bestie hindurchschauen konnte.
Sie peilte schräg in das Abteil hinein.
Was sie dort zu sehen bekam, gefiel ihr ausnehmend gut. Die beiden Menschen waren völlig ahnungslos. Sie saßen einander gegenüber. Der Mann hatte sein Jackett ausgezogen. Er trug ein weißes Hemd und eine graue Hose. Sein Haar war dunkelblond und leicht gewellt. Die Augen hielt er geschlossen, die Hände auf dem Bauch gefaltet.
Die Frau las in einer Illustrierten. Sie trug eine Lesebrille und ein rotes Winterkostüm, dessen Jacke aufgeknöpft war.
Jetzt gähnte der Mann. »Willst du nicht aufhören zu lesen?«
Ohne die Zeitung sinken zu lassen, fragte die Frau: »Weshalb?«
»Bis Dortmund können wir noch schlafen. Morgen wird der Tag verdammt anstrengend.«
»Du hast doch ein Zimmer reservieren lassen.«
Jetzt lachte der Mann. »Glaubst du denn, daß ich da nur schlafen will?«
»Habe ich mir gedacht. Aber da spielt sich nichts ab. Wir sind Vertreter-Kollegen und damit fertig. Hol dir deine Damen woanders. Bei mir bekommst du keine Provision.«
»Abwarten.« Der Mann setzte sich wieder gerade hin. »Ich sage dir nur folgendes…«
Was dieser Mensch erzählen wollte, sollte die Frau nie mehr erfahren, denn in diesem Augenblick riß die Bestie die Tür auf, und über die beiden Fahrgäste brach die Hölle herein…
***
Wir fühlten uns wahrlich nicht wohl in unserer Rolle, doch es gab keine andere Möglichkeit. Wagen für Wagen und Abteil für Abteil mußten von uns durchsucht werden.
Die ersten beiden Abteile fanden wir leer. Im zweiten saß die Frau mit den beiden Kindern und erschrak, als sie uns sah. Will Mallmann beruhigte sie mit freundlichen Worten, wünschte eine gute Reise und ging weiter.
So kämpften wir uns durch die ersten Wagen. Die meisten Fahrgäste hatten Verständnis, andere warfen uns böse Blicke wegen der Störung zu, denn die Leute wollten sich ausruhen, was auch verständlich war.
Wieder andere machten ihrem Ärger durch Schimpfen Luft.
Schließlich gelangten wir in den Speisewagen. Er befand sich in der Mitte des Zugs.
Entdeckt hatten wir keine Spur von einer gewissen Barbara Päuse. Auch nicht im Speisewagen, der zur Hälfte belegt war. Die kleinen Tischlampen brannten und verbreiteten einen gemütlichen Schein. Ein Ober schaute uns erstaunt an, als wir durch den Wagen gingen, ohne etwas zu bestellen.
»Dann kann sie sich nur noch in der anderen Hälfte aufhalten«, sagte Suko und zog eine Toilettentür auf, um in den ebenfalls leeren Raum zu schauen.
Uns blieb nichts anderes übrig als weiterzusuchen. Ein Pärchen störten wir beim Knutschen, eine ältere Frau wollte uns für ihre Kirche gewinnen, und drei Kartenspieler reagierten mürrisch, als wir die Tür aufzogen.
Die anderen Fahrgäste lagen zumeist im Schlaf.
Wir trafen nur auf eine besetzte Toilette. Darauf achteten wir sehr genau, denn wie oft kam es vor, daß sich irgendwelche Personen in diesen Räumen einschlossen.
Hier hatten wir Pech. Ein älterer Mann im grauen Anzug verließ den Raum, schaute uns scharf an und ging.
»Allmählich wird meine Hoffnung dünner«, sagte Will Mallmann. »Noch drei Wagen, dann haben wir es hinter uns.«
Ich legte meinen Zeigefinger auf die Lippen.
»Was ist denn?« fragte Will.
»Sei mal still. Ich glaube, etwas gehört zu haben.«
»Was denn?«
Ich hob die Schultern und drehte mich um. Allein ging ich weiter und betrat den nächsten Wagen.
Hinter mir hörte ich hastige Schritte, denn Suko und Will eilten mir nach.
Weit kamen wir nicht, denn etwas geschah, womit keiner der Fahrgäste gerechnet hatte.
Auf einmal ging ein gewaltiger Ruck durch den Zug. Ich flog nach vorn, wurde zur Feder, konnte mich nicht mehr halten, krachte gegen eine Tür und rutschte wie ein Stück Papier über den Boden, während um mich herum die Hölle ausbrach.
Notbremse, dachte ich noch, und einen Augenblick später prallte etwas mit vehementer Gewalt gegen meinen Schädel…
***
»Rolf!«
Die Frau brüllte den Namen des Mannes, während sie in die Höhe schnellte und die Zeitung fallen ließ.
Es war bereits zu spät. Die Bestie hatte sie schon aufs
Weitere Kostenlose Bücher