0260 - Ein Totenopfer für Clarissa
hob nur die Schultern.
»Was sollte die letzte Antwort bedeuten?« fragte mich Clarissa, nachdem sie ihre Gedanken wieder geordnet hatte.
»Ich dachte, du hättest mich verstanden. Mir gehört das Kreuz. Mir allein.«
»Du wirst es nicht bekommen!« zischte sie. »Und ich kann dich auch nicht am Leben lassen, denn eins ist sicher. Du würdest immer versuchen, mir das Kreuz abzujagen, und das werde ich auf keinen Fall zulassen. Deshalb wirst du dein Leben aushauchen.«
»Damit mußte ich rechnen. Aber«, ich steigerte meine Stimme.
»Was hast du mit dem Kreuz vor? Du kannst es gegen die Kräfte aus dem Schattenreich einsetzen, gegen Schwarzblütler, gegen Dämonen und andere schwarzmagische Abarten, wobei ich nicht glaube, daß du die gleiche Energie im Kampf gegen diese Wesen aufbringen willst oder wirst wie ich. Oder was hast du sonst vor?«
»Ich fange da an, wo ich aufgehört habe. Die Jahrhunderte existieren für mich nicht. Ich streiche diese Zeit, löse sie einfach auf, John Sinclair.«
»Das geht nicht, Clarissa. Nicht nur die Zeit hat sich geändert, die Menschen ebenfalls. Du wirst es schwerhaben, dich in der neuen Welt zurechtzufinden, glaub mir.«
»Ich komme schon durch.« Sie war vom Gegenteil nicht zu überzeugen, und ich empfand es als sehr schade, daß wir beide Feinde waren. Eigentlich hätten wir uns ergänzen können, doch diese Frau zeigte keinerlei Kompromißbereitschaft. Sie wollte alles oder nichts.
Darauf konnte ich nicht eingehen. Allerdings hatte ich viel zu wenig erfahren. Ich wußte zwar, wer diese Clarissa war, aber wie es kam, daß sie so lange gelebt hatte, war mir unbekannt. Und in welch einer Verbindung stand sie zu diesem Wolfszauber, dies hätte ich sehr gern herausgefunden, und ich war sicher, daß ich es erfahren würde, denn die Nonne zeigte sich sehr redselig.
Bei meinen letzten Gedanken wanderte mein Blick unwillkürlich, so daß ich jetzt nicht nur die Nonne anschaute, sondern auch die wie versteinert wirkende Wolfsgestalt am Kopfende des Lagers.
Clarissa hatte meinen Blick bemerkt und begann zu lachen. »Dich interessiert der Wolf!?«
»Ich kann es nicht leugnen.« Sie nickte und verengte die Augen.
»Er und die vier anderen haben mich beschützt. Denn die Wölfe waren schon, bevor es die Menschen gab, John Sinclair.«
Verdammt, das hatte ich doch schon des öfteren gehört. Jetzt kam sie wieder damit an. »Wie kommst du auf diesen Satz?« wollte ich wissen. »Was haben die Wölfe damit zu tun?«
»Es gab eine Zeit, die noch weit vor der meinigen lag, da existierten so gut wie keine Menschen. Wenigstens nicht in der Art und Weise, wie du sie kennst. Aber es gab die Wölfe. Sie bevölkerten die großen Wälder, die weiten Ebenen, die fruchtbaren Täler, die Sümpfe, die Berge. Die meisten von ihnen waren normale Raubtiere, aber es gab auch welche, die dem uralten Wolfszauber hörig waren. Fenris, der Götterwolf, hatte diese Tiere erschaffen. Sie waren seine Botschafter auf einer Erde, die sich erst allmählich entwickelte. Während in anderen Dimensionen die Kriege der Götter und Dämonen tobten, wurde die Erde damit nur am Rande gestreift. Wenigstens weiß man nicht viel davon. Aber die Wölfe blieben. Ihr Zauber konnte nie gelöscht werden, und ich hatte das Glück, ihn erleben zu dürfen. Sind Romulus und Remus nicht auch von einer Wölfin gesäugt worden? Wenn sie nicht gewesen wären, dann gäbe es Rom nicht. So haben die Wölfe in das Schicksal der Welt eingegriffen und den Kreislauf in Gang gehalten. Ich beschäftige mich mit dem Wolfszauber, ich versuchte ihn zu begreifen, führte Beschwörungen durch und nahm dazu auch das Kreuz, das mir ja gehörte…«
»Moment mal«, sagte ich, »willst du damit behaupten, daß du mit meinem Kreuz das Böse, das Dämonische gerufen hast?«
»Es war kein böser Zauber, John Sinclair. Die Unterschiede haben die Wölfe nie gemacht. Für sie gab es die Aufteilung nicht. Die ist erst später aufgekommen, und an ihr haben auch die Menschen mitgewirkt. Der Wolfszauber ist also völlig normal.«
»Das alles will ich ja gelten lassen«, sagte ich, »aber welche Bedeutung haben die Wölfe für dich persönlich?«
»Sind alle Menschen dieser Zeit so ungeduldig wie du?« wollte die Nonne wissen.
»Manchmal schon.«
»Dann muß ich sie bekehren. Aber ich will dir eine Antwort geben. Die Makkabäer, zu denen ich gehöre, waren fromme Menschen. Wir spalteten uns von den ersten Christen ab und fanden in diesem Land eine
Weitere Kostenlose Bücher