0262 - Non-Stop in die Ewigkeit
bis zum Morgengrauen New Yorks Grenzen nicht hinter dich gebracht hast, wird es dir schlecht gehen.«
Die ersten Tramps verließen Chats Inn. Ich folgte Red und Louis. Zum zweiten Mal kam ich dicht an Meadock vorbei. Sein Blick traf mich, und sein Gesicht hatte den Ausdruck eines Hundes, der Beute wittert.
Endlos erschien mir der Marsch durch das nächtliche New York. Im Schatten der Häuser wanderten die Landstreicher dahin wie die Gestalten aus einer anderen Welt. Sie scheuten vor Straßen zurück, die im Schein der Laternen lagen, wichen aus in dunklere und einsamere Nebenstraßen. Sie drückten sich in die Hausflure, wenn sie die harten Schritte von Polizisten hörten, und sie senkten die Köpfe, wenn die Scheinwerfer vorübergleitender Autos sie anstrahlten.
So erreichten wir in der letzten Dunkelheit der Nacht die Bowery. Der Marsch endete vor einem sauber getünchten Haus in der Selbridge Street, vor dem Asyl der Untersten.
***
Der Mann, der uns die Tür öffnete, war groß, glatzköpfig und fett. Ich wusste, dass er Hugham Bolwer hieß, der Chef dieses Asyls war und gleichzeitig der Mann, der Ethel Sherwoods Vermögen erben sollte.
»Spät kommt ihr, Freunde«, sagte er ölig. »Die Schlafsäle sind überfüllt. Keinen Platz habe ich für euch, ausgenommen den Keller.«
Watschelnd wie eine Ente ging er voraus, öffnete eine Seitentür und knipste eine Lampe an. Eine schmale und steile Treppe führte in den Keller hinunter. Polternd stiegen die Tramps hinunter, ich war unter ihnen.
Die Treppe mündete in einen engen Gang, der sich schließlich zu einem großen weiß gestrichenen Raum öffnete. Eine Tür aus Stahlblech trennte den Gang und den Raum.
Ich schätzte, dass das Kellerzimmer etwa dreißig Quadratyards hatte. Es besaß keine Fenster. Zwei Glühlampen brannten an der Decke. In der Mitte des Raumes standen ein großer, viereckiger Tisch und mehrere Stühle. Entlang den Wänden waren doppelstöckige Pritschen aufgebaut.
Die Tür schloss sich, als der letzte der Tramps den Raum betreten hatte. Sie schloss sich automatisch. Von innen besaß sie keine Klinke.
Ich beobachtete die Tramps. Alles in allem waren wir acht Leute, von denen ich nur den Blassen Louis und Red kannte. Die anderen waren Vagabunden jeder Schattierung.
Die Männer sprachen nicht miteinander. Sie waren unruhig, einige zeigten Angst.
»Was passiert jetzt?«, fragte ich Red.
Selbst Reds Sommersprossen schienen blasser geworden zu sein. Auch er hatte Angst.
»Der Boss«, sagte er leise.
Als hätte er ein Stichwort geliefert, erlosch das Licht. Die Finsternis in dem fensterlosen Raum war für meine Blicke undurchdringlich.
Ich spürte, dass die Tramps den Atem anhielten. Zwei, drei Minuten vergingen in tiefstem Schweigen. Dann sagte eine laute, tiefe Männerstimme: »Hier spricht der Boss. Ich habe einen Auf trag für euch, Leute. Es handelt sich darum, dass ein bestimmtes Mädchen, das in einer Villa in der Cumberland Street wohnt, beobachtet werden muss. Ich will alles wissen, was dieses Mädchen unternimmt. Ich muss von jedem Schritt erfahren, den sie tut. Für diese Aufgabe werdet ihr eingesetzt. Der Hinker wird euch einteilen. Er wird euch das Mädchen zeigen, und er wird euch sagen, wie ihr euch zu verhalten habt. Wenn ich mit euch zufrieden bin, werde ich euch belohnen. Wenn nicht, so…«
So laut die Stimme sprach, und obwohl es sich so anhörte, als stünde der Sprecher mitten im Raum, so hatte die Stimme doch etwas merkwürdig Körperloses. Ich war ziemlich sicher, dass sie aus einem Lautsprecher drang, der irgendwo im Kellerraum verborgen sein musste.
Unmittelbar nach dem letzten Wort flammte das Licht wieder auf. Ich weiß nicht, wie ich den Ausdruck beschreiben soll, den die Gesichter der Tramps zeigten. Angst allein stand nicht darin zu lesen, es stand auch Unterwürfigkeit und vielleicht sogar etwas wie Gläubigkeit darin. Ich begriff, dass für diese entwurzelten Landstreicher jener geheimnisvolle Mann, den sie den Boss nannten, etwas Schicksalhaftes bedeutete, dem man sich nicht entziehen konnte.
»Keine schwere Sache«, sagte der Blasse Louis.
»Kann aber lange dauern«, meinte Red. »Am Ende müssen wir zwei oder drei Wochen hierbleiben.«
Die Stahlblechtür öffnete sich. Auf seiner Krücke kam der Mann herein, der uns aus Chats Inn hergelost hatte.
Er hinkte zum Tisch und schwang sich mit einiger Mühe darauf. Die schwarzen Augen in seinem bleichen Gesicht musterten uns der Reihe nach. Der Blick war
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