0264 - Nachts, wenn der Wahnsinn kommt
zitterte, als sie nach dem Hörer faßte und ihn in die Höhe hob. Bisher hatte sie sich gut gehalten und ihre Nerven einigermaßen unter Kontrolle gehabt, nun aber sah die Sache anders aus. Die Angst war da, sie ließ sich nicht wegleugnen. Wenn sie ihren Vater anrief, kam dies nach den Regeln der Schule einem Verrat gleich.
Sie wählte die Nummer. Dabei mußte sie sich stark konzentrieren, um den Finger nicht in das verkehrte Wählloch zu stecken. Immer wenn die Scheibe zurückrollte, zuckte sie zusammen, und sie horchte gleichzeitig in Richtung Tür.
Da blieb alles ruhig!
Endlich ertönte das Freizeichen. Sie hatte die Geheimnummer ihres Vaters gewählt. Einen Anschluß, den nur wenige Menschen kannten.
Wenn dieser Apparat klingelte, konnte der Don sicher sein, daß es ein wichtiger Anruf war.
Er hob auch ab.
Ihr Vater meldete sich nie mit Namen. Er schmetterte stets ein »Ja?« in den Hörer.
»Ich bin es, Papa!«
Ein scharfer Atemzug folgte. »Du, Carla?«
»Ja, Papa. Und jetzt hör genau zu. Hier geht etwas Unheimliches vor. Franca, eine Mitschülerin, ist verschwunden. Ich habe das Gefühl, von einer schrecklichen…« Sie sprach nicht mehr weiter, denn plötzlich war die Leitung tot..
Eine Unterbrechung? »Papa, Papa!« rief sie.
Ihr Vater gab keine Antwort. Die Verbindung war unterbrochen worden.
Carla starrte auf den Hörer. Tränen schimmerten in ihren Augen. Da war eine Hoffnung zerplatzt. Der rettende Strohhalm, an den sie sich hatte klammern wollen, war gesunken. Jetzt gab es nichts mehr, und sie stand allein.
Carla hatte Mühe, den Hörer auf die Gabel zu legen. Er wäre ihr fast aus der schweißnassen Hand gerutscht, und sie atmete tief durch, als er endlich auf der Gabel lag. Deutlich zeichneten sich Schweißflecken auf dem Kunststoff ab.
Sie drehte sich um. Ihr Gesicht wirkte kalkig. War diese Unterbrechung ein normaler Zwischenfall, oder hatte sie jemand bewußt herbeigeführt?
Carla traute keinem Menschen mehr in diesem Haus, das für sie auf einmal wie ein Gefängnis war. Über ihren Rücken rann ein kalter Schauer. Auf der Oberlippe spürte sie den salzigen Schweißgeschmack Dann ging sie mit steifen und dennoch zittrigen Knien auf die. Tür zu, legte ihre rechte Hand auf die Klinke, zog die Tür mit einem Ruck auf und schrie leise.
Vor ihr stand Elena Propow!
***
Ich kannte die tödliche Melodie.
Dieses häßliche Hämmern der Maschinenpistolen, das widerliche Pfeifen der Kugeln, die harten, klatschenden Einschläge und das Spritzen von Stein und Mauerwerk.
Zudem standen wir ungünstig. Wenn wir uns in Deckung warfen, behinderten wir uns gegenseitig.
Ich tauchte gedankenschnell unter, riß den Kommissar mit, während Suko sich um Bricci kümmerte. Auch die beiden gingen zu Boden. Wir knallten allesamt auf die Stufen der Treppe und rollten sie hinunter.
Heftige Schläge bekamen wir mit. Allerdings nicht von den Geschossen, sondern von den harten Kanten der Stufen, und als wir schließlich unten lagen, da hatten sich zwei der vier Killer am Ende der Treppe aufgebaut.
Sie standen da wie finstere Todesboten. Dunkle Kleidung trugen sie, die Maschinenpistolen in ihren Händen hielten sie gesenkt. Die Mündungen glotzten uns wie tödliche Augen an.
Ich erwartete jeden Augenblick die mörderische Garbe, die unser Leben auslöschte. Schließlich wußte ich genug über die Mafia, die sich nicht scheute, Menschen auf offener Straße umzubringen.
»Die sind wahnsinnig!« hörte ich Suko flüstern. Er hatte es ebenfalls nicht geschafft, eine Waffe zu ziehen. Zudem wurden wir von den beiden anderen eingeklemmt.
Dann hörten wir die Stimme. Sie klang kalt und hart. Jemand sprach ein so schnelles Italienisch, das ich nicht verstand. Der Kommissar übersetzte flüsternd.
»Sie wollen uns nicht töten«, wisperte er. »Sondern mit uns reden, glaube ich.«
»Wer — die?«
Der Killer redete wieder. Ich verstand den Namen Capo, und mir wurde einiges klar.
Luigi Bergamo wollte also etwas von uns. Meinetwegen, sollte er. Ich war gespannt, wie die Sache weiterging, und ich spürte jetzt starkes Herzklopfen, wo die unmittelbare Gefahr vorbei war.
»Lassen Sie die Hände oben, wenn Sie aufstehen!« riet uns Palazzo, und wir kamen seinem Wunsch nach.
Suko und ich erhoben uns zur selben Zeit. Bricci blieb noch liegen. Er schimpfte fürchterlich. Sogar verständlich, so wie sich die Killer benommen hatten.
Suko blieb dicht hinter mir, als ich die Stufen nach oben schritt, wo die beiden
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