0272 - Gorgonen-Fluch
Stellvertreter fiel die überraschende Lebensechtheit der Gestalt auf. Sogar die Kleidung war nachgebildet, und in der gläsernen Bierflasche befand sich eine Marmormasse mit erstarrten Schaumblasen.
»Als ob hier ein Mensch zu Marmor geworden wäre…«
Zehn Minuten später gab es daran keinen Zweifel mehr. Denn der echte Carlo Rascani war nirgends aufzufinden. Die Fenster waren von innen verschlossen wegen der Mücken, und daß Rascani das Haus durch die Tür verlassen haben konnte, war schier unmöglich. Der Hausdrachen im Erdgeschoß schwor Stein und Bein, die ganze Zeit über aufmerksam gewesen zu sein. »Tagsüber arbeite ich und muß mich deshalb abends um den Hausputz kümmern. Ich habe in der fraglichen Zeit meine Wohnungstür abgewaschen. Ich sah Signor Rascani auch heimkehren, nicht aber das Haus wieder verlassen.«
Dano runzelte die Stirn. Die Signora Hausverwalter machte derartige Aussagen bestimmt nicht zum ersten Mal, der Routine nach, mit der sie die Angaben herunterschnarrte. Ihm kam der Verdacht, daß die wohlbeleibte Dame nebenbei die Funktion der häuslichen Tageszeitung einnahm und demzufolge alles sah und alles hörte, was sie nichts anging.
In diesem Fall konnte es durchaus von Vorteil sein.
»Ist Ihnen an Signor Rascani etwas Besonderes aufgefallen?« fragte er.
»Ja! Er trug eine Statue in der Hand, so eine, wie die Lumpenhunde und Halsabschneider oben am Vesuv und drüben in Pompeji den Touristen zu Wahnsinnspreisen andrehen. Weiß der Himmel, was er mit dem Staubfänger anfangen wollte. Signor Campo, wenn ich den ganzen Tag über diesen Mist verkaufen müßte, könnte ich ihn in meiner Freizeit ganz bestimmt nicht mehr sehen, heilige Madonna…«
Da mochte sie Recht haben. Warum also schleppte Rascani eine Statue mit sich?
Im nächsten Moment schüttelte Ettore Dano den Kopf. »Blödsinn… eine Statue! Die kann doch nichts mit der Versteinerung zu tun haben! Außerdem: wo soll das Ding denn jetzt sein?«
Sie stellten die Wohnung auf den Kopf. Eine unterarmgroße Statue mit ägyptischem Einschlag konnten sie nicht finden. Die einzige Statue war das lebensgroße Ding, das so aussah wie eine naturgetreue Nachbildung des Wohnungsmieters. Aber so naturgetreu konnte kein Bildhauer arbeiten, selbst mit der perfektesten Gießform nicht. Da standen sogar die Wimpern einzeln leicht ab. Unmöglich, Marmor so zu modellieren. Auch Preßstaub hatte seine Grenzen. Außerdem: so billig die kleinen Figuren waren, mußte ein Objekt dieser Größe fast unbezahlbar sein. Damit schied aus, daß Rascani sich einen üblen Scherz erlaubt hatte.
Aber wie konnte ein Mensch — und das Bier im Glas! - zu Marmor werden?
»Das ist ein Fall für die Wissenschaft oder die Kirche«, stellte der Capo fest. »Vorsichtig abtransportiereñ, die Figur. Wohnung versiegeln. Ein anständiger Mensch will auch mal Feierabend haben, und morgen ist auch noch ein Tag.«
Dieser Lebensauffassung haben es die Süditaliener zu verdanken, von ihren weiter nördlich wohnenden Landesbrüdern Faulpelze genannt zu werden. Aber das heiße Mittelmeerklima tat auch das Seine dazu.
Vier Mann faßten zu und transportierten die Rascani-Statue vorsichtig die Treppe hinunter. Ganz vorsichtig und doch nicht vorsichtig genug. Unten hatte der Putzteufel noch den Wassereimer stehen gelassen. Einer der Männer stieß im Rückwärtsgang dagegen, strauchelte und mußte die Figur loslassen. Es kam zur Katastrophe.
Marmor zerschellte auf hartem Steinboden.
Ein Arm brach ab, der Kopf zersprang in drei Stücke, und zusätzlich brach die Figur auch noch in Gürtelhöhe quer durch. Vom linken Knie splitterte ein größerer Brocken ab und hinterließ ein beachtliches Loch.
Nur die marmorgefüllte Bierflasche blieb heil.
Aber das war noch nicht alles. Aus den Bruchstellen schoß Blut hervor, strömte nach allen Seiten davon und breitete sich zwischen den Trümmern aus. Es mußten ungefähr fünf Liter sein, also etwa die Menge, die ein Mensch in seinen Adern kreisen hatte.
***
Das Amulett! durchfuhr es Zamorra. Merlins Stern!
Es war die letzte Möglichkeit, sich zu retten. Er mußte versuchen, es einzusetzen. Mühsam zwang er sich dazu, sich das Silberkettchen über den Kopf zu streifen, weil er die Hieroglyphen der Silberscheibe direkt vor sich sehen mußte, um sicher sein zu können. Dabei mußte er seine verzweifelten Versuche, sich einigermaßen über Wasser zu halten, vernachlässigen und tauchte einmal mehr unter. Es war furchtbar. Die
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