0279 - Der Herr der Unterwelt
fuhr ab.
Ich wartete zwei Stunden auf sie, zwei Stunden, die sich endlos dehnten. Ich lief wie ein gefangenes Tier im Zimmer auf und ab, sah immer wieder nach der Uhr und rauchte ununterbrochen.
Dann hörte ich den Türsummer, stürzte in die kleine Diele und riß die Tür auf. Kitty Welson stand vor mir.
»Er will dich sehen«, sagte sie.
Ich unterdrückte einen erleichterten Seufzer.
Die Frau streckte die Hand aus. Die Geste war eindeutig. Ich nahm die Pistole aus der Halfter und gab sie ihr. Sie schob sie in die Tasche ihres Mantels.
»Gehen wir!«
***
Das Haus, vor dem sie stoppte, war eine vielstöckige Mietskaserne in der Sollanger Street. Dick lagerte der süßliche Dunst der nahen Schlachthöfe in der Straße. Kinder quirlten schreiend auf den Bürgersteigen durcheinander. Ich sah Aufschriften in Italienisch an den Fenstern und Türen der kleinen Läden. Diese Straße lag in einem Viertel, das ausschließlich von italienischen Einwanderern bewohnt wurde.
Die Frau ging vor mir her auf die Toreinfahrt des Hauses zu. Die Männer und Frauen vor den Haustüren und auf den Treppenstufen sahen uns nach. Sie steckten die Köpfe zusammen und flüsterten. Ich holte Kitty in der Toreinfahrt ein.
»Hier hält sich Breadcock auf?«
Sie nickte.
»Hier müssen ihn Dutzende — nein, Hunderte von Leuten gesehen haben.«
Sie warf mir einen schrägen Blick zu.
»Italiener lieben nichts mehr als ihre Kinder«, sagte sie hart. »Wußtest du das nicht? — Außerdem kann kaum einer von denen hier genug Englisch, um eine Zeitung zu lesen. Vielleicht wissen viele in der Straße, daß Breadcock ein ungebetener Gast ist, aber sie schweigen. Sie wissen vielleicht, daß ein Kind sterben muß, wenn die Polizei in dieses Haus käme. Italiener lieben alle Kinder, nicht nur die eigenen.«
Die Toreinfahrt mündete in einen sonnenlosen, engen Hof, an dessen hinterer Mauer eine niedrige Holzbaracke errichtet war. Im Eingang der Baracke saß ein Mann, der rasch aufstand, als er Kitty und mich sah. Er trat zur Seite und gab den Weg frei, aber er kam uns nach.
Eine Art Gang teilte die Baracke in zwei Hälften. Links befanden sich zwei Türen, die beide offenstanden, während die einzige Tür auf der rechten Seite geschlossen war.
Eine Frau stand in der ersten offenen Tür. Sie hob flehend die Hände, sprach aber kein Wort.
Kitty Welson beachtete sie nicht. Sie blieb vor der geschlossenen Tür auf der rechten Seite stehen, drehte sich zu mir um, sah mich an und fragte spöttisch: »Angst!«
»Unsinn!« knurrte ich.
Sie legte die Hand auf die Klinke, stieß die Tür auf und sagte laut, ohne mich aus dem Blick zu lassen: »Besuch für dich, James!«
***
Das Zimmer war einfach, aber sauber eingerichtet. Es enthielt ein Bett, eine Couch, einen Waschtisch, einen Schrank und einen Tisch, um den vier Stühle standen. Auf einem der Stühle saß James Breadcock, auf dem anderen ein Kind, ein braunhäutiger hübscher Junge von knapp acht Jahren mit schwarzen Haaren und großen dunklen Augen. Auf dem Tisch stand ein Brettspiel, und der Junge hielt noch die Würfel in der Hand. In James Breadcocks Pranke aber schimmerte der Lauf der schweren Colt Automatic.. Es mußte jene sein, mit der er Ted Carsten tötete.
Kitty Welson ging an mir vorbei, nahm meine Pistole aus der Manteltasche und legte sie vor Breadcock auf den Tisch.
»Hallo, Breadcock!« sagte ich. Meine Stimme klang heiser.
Der Blick des Gangsters ließ mich nicht los. Seine Hände waren schmutzig, sein häßliches, grobschlächtiges Gesicht stoppelbärtig.
Er tippte mit dem Zeigefinger der linken Hand auf meine Pistole.
Ein Grinsen breitete sich über sein Gesicht.
»Keine Absicht mehr, mich umzulegen?« Er hatte eine tiefe, aber wie geborsten klingende Stimme, und er formte die Worte so nachlässig, daß es Mühe machte, ihn zu verstehen.
Ich grinste.
»Sprechen wir nicht von der Vergangenheit, sondern von der Zukunft! Sie«, ich zeigte auf Kitty Welson, »hat dir erzählt, worum es sich handelt. Schick den Boy fort, damit wir darüber reden können.«
Sein Grinsen verbreiterte sich so, daß ich die schwarzen Stummel seiner Zähne sehen konnte.
»Der Boy bleibt immer an meiner Seite. Ist mein Schutzengel. Wir haben uns aneinander gewöhnt. He, Angelino!« Er wandte den schweren Schädel dem Kind zu.
Der Junge duckte sich. Seine kleine Hand ließ den Würfel fallen.
Die dunklen Augen starrten das Monster angstvoll an.
»Setz dich, Calligan!« befahl mir
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