0285 - In den Tiefen von Loch Ness
ziemlich nah sein, an der Oberfläche oder gar…
Gryf erschrak.
Was geschah draußen in der Nacht? Verließ Nessy den See? Das gab es doch nicht! Und doch ließ die Annäherung ihres Gedankenmusters keinen anderen Schluß zu. Aber vergeblich versuchte Gryf, sich dem Seeungeheuer verständlich zu machen.
Nessy war abgeschirmt oder schirmte sich ab, und mit seinen Druidenkräften kam Gryf nicht zu ihr durch! Er konnte nicht zu ihr »sprechen« und sie auch nicht »hören«, sondern nur ihre Annäherung feststellen. Mehr nicht.
Ein böser Verdacht keimte in ihm auf. Hatte Leonardo deMontagne Nessy etwa gezwungen, Loch Ness zu verlassen? Anders konnte es nicht sein.
Aber das bedeutete, daß die Gefahr schon größer sein mußte, als sie alle glaubten!
»Ich muß Zamorra warnen«, keuhte Gryf. »Und wir müssen Nessy irgendwie in den See zurückbringen, ehe ein Unglück geschieht…«
***
Sir Glenn MacRaven fand keinen Schlaf. Unruhig wälzte er sich in seinem Bett hin und her und lauschte neidvoll auf die gleichmäßigen Atemzüge seiner Herzallerliebsten. Daß die nach all der Aufregung so ruhig schlafen konnte, begriff er nicht. Er selbst beschäftigte sich gedanklich immer noch zu stark mit all diesen Dingen.
Plötzlich glaubte er einen riesigen Drachenschädel vor sich zu sehen, der das Maul aufriß und ihm eine Flammenwolke entgegenspie. Aufstöhnend fuhr er hoch und saß aufrecht im Bett.
War das eine Vision gewesen?
Griff das Ungeheuer aus dem See aus der Ferne nach ihm?
Sir Glenn erhob sich, kleidete sich wieder an und wanderte unruhig im Schlaf raum hin und her. Joanna schlief immer noch. Sir Glenn verließ das Zimmer, betrat ein anderes und öffnete dort das Fenster, weil er Joanna im eigenen Schlafraum nicht dadurch stören wollte, daß Nachtkälte eindrang.
Und wie schneidend die Kälte war! Starker Wind war aufgekommen, und die Böen kamen vom See her und bissen in Sir Glenns Gesicht. Der Vorhang rechts und links von ihm wurde weit ins Zimmer gebläht.
Am Nachthimmel funkelten die Sterne zwischen jagenden Wolken. Eine Wolkenwand schob sich vor die Mondsichel und gab sie schon bald wieder frei.
Sir Glenn versuchte etwas zu erkennen. Er blickte über die Burgmauer hinweg in Richtung Loch Ness. Und da sah er es.
Seine Vision wurde Wirklichkeit.
Ein gigantischer, massiger Körper schob sich auf vier Säulenbeinen tappend auf Raven’s Castle zu. Der mächtige Schädel pendelte leicht hin und her, und ein langer Schweif peitschte durch die Luft, knickte junge Bäume ab und wischte alles zur Seite, was in seinem Weg stand.
Das Ungeheuer von Loch Ness kam!
Sir Glenn schluckte. Er wurde aschfahl, und Todesangst krallte sich in ihm fest.
Das Ungeheuer suchte ihn!
***
Nessys Augen waren hervorragend. Der Saurier, eine der allerletzten Kreaturen aus ferner Vorzeit, war dem Leben unter Wasser ebenso wie dem an Land angepaßt und sah auch in der Nacht außerordentlich gut.
Nessys Augen erkannten den Mann am Fenster der Burg. Es gab keinen Zweifel. Das war er. Der Tag der Rache war gekommen.
Etwas in Nessy zerbrach. Es war der Bann, den eine andere Macht auf sie gelegt hatte. Der Zwang Leonardo de-Montagnes!
Wut, Zorn, Haß, unbezähmbarer Wunsch nach Vergeltung flammten in Nessy empor. In diesen Sekunden wurde Nessy auch innerlich zum Ungeheuer, und ihre aufbrandenden Gefühle sprengten alle Ketten. Von einem Moment zum anderen besaß Leonardo deMontagne keine Macht mehr über sein jüngstes Werkzeug. Seine Befehle besaßen keine Bedeutung mehr.
Es gab nur noch eines, das wichtig war: Die Rache an Glenn MacRaven, dem Ungeheuer in Menschengestalt!
Und Nessy wurde schneller. Jetzt endlich war der Tag gekommen. Und noch ehe die Morgensonne über die Berge kletterte, würde Glenn MacRaven sterben müssen.
Auge um Auge, Zahn um Zahn. Leben um Leben.
Das Ungeheuer von Loch Ness kam, um einen Mörder zu richten. Um ein Todesurteil zu vollstrecken, das vor sehr langer Zeit gefällt worden war.
***
Leonardo erstarrte. Die Gewalt über Nessy entglitt ihm, und er schaffte es nicht, erneut anzugreifen und das Ungeheuer wieder unter seine Kontrolle zu bringen. Das Gesicht de Montagnes verfinsterte sich. Er murmelte eine böse Verwünschung. Die Blätter des Baumes, unter dem er stand und beobachtete, begannen zu welken.
Nessy hatte sich ihm entzogen und ging jetzt ihren eigenen Weg!
Das durfte nicht sein.
Schön, im Grunde konnte es ihm jetzt herzlich gleichgültig sein, ob er Nessy noch beherrschte
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