029 - Der tätowierte Tod
ihren Brüsten eine Tätowierung. Es bestand kein Zweifel, daß auch die anderen tätowiert waren. Einige schwangen Fackeln und wiegten sich in einem seltsamen Rhythmus zu der schaurigen Musik in den Hüften.
Dorian schlich bis zur nächsten Säule, von wo aus er einen besseren Überblick hatte. Überall, wo Menschen Dämonen beschworen oder Dämonen selbst ihre perversen Feste feierten, begegnete man ähnlichen Bildern. Es spielte sich alles nach dem gleichen Schema ab, es gab nur Abweichungen in den Details.
Die Tätowierten hockten ringsum auf den Gerüsten und starrten entrückt auf die Wasseroberfläche, wo ein Boot verankert war. Darauf stand ein Mann in einem weißen, bodenlangen Gewand, der der Hohepriester zu sein schien. Von ihm kam der Singsang. Vor ihm im Boot lag ein menschenähnliches Geschöpf; das heißt, es hatte eine menschliche Gestalt, schien aber nicht aus Fleisch und Blut zu sein, sondern aus einem pergamentartigen Material zu bestehen oder damit umwickelt zu sein.
Eine Mumie! durchzuckte es Dorian; und im gleichen Augenblick wußte er, daß es sich um die verhüllte Statue des Tätowierers Meze handeln mußte. Auch Meze war unter den Sektenmitgliedern, von denen einige bereits dem Höhepunkt der Ekstase zustrebten.
Dorian blickte wieder auf die Mumie, deren Gesicht eine Art Kriegsbemalung zierte. Er war nun sicher, daß vor noch nicht allzu langer Zeit der ganze Körper der Mumie mit solchen symbolhaften Zeichnungen übersät gewesen war. Doch jedesmal, wenn Meze eine solche Zeichnung in die Brust eines Opfers tätowierte, verschwand diese von der Mumie.
Dorian spürte Stolowskis Druck am Oberarm. »Der Mann in dem Boot«, keuchte er nahe Dorians Ohr, »das ist Juri Samjatin.«
Dorian hatte es vermutet. Er nahm an, daß es sich bei der tätowierten Mumie um den Fund handelte, den Juri Samjatin in den Ruinen von Abydos gemacht hatte. Er konnte seine Gedanken aber nicht weiterspinnen, da er unter den Sektenmitgliedern zwei Männer sah, die er gut kannte.
»Suslikow und Petrow«, stellte er erschüttert fest.
Stolowski sagte nichts darauf. Er wandte den Kopf ab. Dorian konnte sich vorstellen, wie ihm zumute war.
»Wir müssen diese Brut ausräuchern«, sagte Stolowski schließlich. »Vielleicht besteht für Anatol und Alexej noch Hoffnung.«
Dorian starrte wieder zu dem Boot hinunter. Ihm war, als durchlaufe die Mumie ein Zittern. Vielleicht bedurfte es nur noch eines kleinen Anstoßes, um sie ins Leben zurückzurufen. Und was würde dann sein? Was würde geschehen, wenn die letzte Tätowierung aus dem Gesicht der Mumie auf ein Opfer übertragen wurde? Konnte die Mumie dann aus dem Reich der Toten zurückkehren?
Dorian sah keinen Weg, dies zu verhindern. Er und Stolowski waren gegen diese Übermacht hilflos. Sie mußten machen, daß sie fortkamen, bevor …
Dorian erstarrte. Er sah, wie etwas auf das Boot mit Samjatin und der Mumie zutrieb. Es war das Brett, das bei Stolowskis Balanceakt ins Wasser gefallen war. Es stieß in diesem Augenblick gegen das Boot.
»Nichts wie weg von hier!«
Er drehte sich um. Eine junge Frau stand vor ihm. Eine Eurasierin. Sie schrie gellend auf, reckte ihm die Brust entgegen, die mit einer dicken Hornhaut überzogen war – und die Tätowierung darauf begann sich zu bewegen. Es war der Schnabel eines Raubvogels. Die Hornhaut flatterte heran. Dorian stieß zu, verfehlte jedoch mit der Schlangennadel sein Ziel. Der tätowierte Schnabel hackte Stolowski ins Genick. Dann erst bekam Dorian die Hornhaut zu fassen. Er schleuderte sie von sich.
Im Nu war in der Zisterne der 1001 Säulen die Hölle los. Dorian beförderte die Eurasierin mit einem Tritt ins Wasser.
»Mir nach, Hunter!« rief Stolowski. »Ich führe Sie zum Ausgang!« Der Russe blutete aus einer tiefen Wunde im Genick. Er taumelte, wäre fast ins Leere getreten und konnte sich nur mit sichtlicher Mühe auf den Beinen halten.
Auf einem der oberen Stege tauchte ein junger Mann auf. Er sprang mit einem animalischen Geheul herunter und landete wenige Meter vor ihnen. Auf seiner Brust leuchtete ein spiralförmiges Horn, das sich ablöste und auf Dorian zuschoß. Der Dämonenkiller wollte sich mit einem Sprung aus der Schußrichtung bringen, doch instinktiv ahnte er, daß das Geschoß ihm überallhin folgen würde. Er riß die gnostische Gemme von der Kette und streckte sie weit von sich. Das Spiralhorn löste sich auf und leuchtete dann wieder auf der Brust des Tätowierten. Stolowski streckte den
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