029 - Die neue Macht
letzten Jahrhunderten verändert: Aus Sicherheitsgründen war der Rest der Bunkergesellschaft ausgeschlossen. Was hier besprochen wurde, blieb geheim, bis der Präsident die Beschlüsse öffentlich verkündete. An manchen Tagen wusste Hymes nicht, ob das eine gute Entwicklung war.
Ein grünes Licht an der Seite seines Sitzes signalisierte ihm, dass alle Senatoren an ihren Plätzen waren. Er drückte auf einen Knopf, der einen Gong ertönen ließ.
»Ich heiße Sie alle zur Sondersitzung des Weltrats willkommen«, sagte Hymes. »Ich nehme an, Sie haben sich mit den Unterlagen vertraut gemacht.«
»Das haben wir in der Tat«, verkündete eine Stimme aus dem rechten Block. »Mr. President, das Verhalten des Fremden entspricht genau den irrationalen Mustern, die wir befürchtet haben. Er ist eine Gefahr für jeden Einzelnen im Bunker und ein unkalkulierbares Sicherheitsrisiko. Wir sollten…«
»Blödsinn!«, unterbrach jemand aus der linken Ecke. »Wir sollten eine kleine Schlägerei nicht überbewerten. Denken Sie doch nur an die Informationen, die wir durch Commander Drax erhalten haben. Endlich haben wir die Gelegenheit, Kontakt zu einer Zivilisation in Europa aufzunehmen und unsere Forschungen auszudehnen.«
»Sie sollten lieber nicht die Informationen unterschätzen, die Drax von uns bekommen hat!« Wieder die Stimme aus dem rechten Block. »Er weiß, dass wir ein Serum haben, und wenn wir ihn noch ein paar Tage hier herumlaufen lassen, kennt er vielleicht sogar unsere Truppenstärke. Ich sage, wir dürfen erst mit den Europäern Kontakt aufnehmen, wenn wir unseren eigenen Kontinent unter Kontrolle gebracht haben und aus einer Position der Stärke verhandeln.«
»Wollen Sie erobern oder erforschen, geschätzter Kollege? Wir haben die einmalige Gelegenheit, nicht nur mehr über Europa, sondern auch über die Welt vor ›Christopher-Floyd‹ zu erfahren. Das -«
»- sind Hirngespinste, nichts weiter! Sehen Sie sich Drax doch an! Glauben Sie wirklich, dass Sie von einem Wahnsinnigen vernünftige Informationen bekommen. Das ist lächerlich!«
»Sie sind lächerlich, Sie alter Saft…«
»Meine Herren«, unterbrach Hymes die Diskussion.
»Wir sollten sachlich bleiben. Sie alle haben das Gespräch zwischen mir und Drax gehört und waren der Meinung, dass er glaubwürdig klang.«
»Das war, bevor er einen Wachmann halb tot geschlagen hat«, warf die Stimme aus dem rechten Block ein.
Der Präsident nickte. »Dieses Verhalten ist besorgniserregend, aber sollten wir nicht abwarten, bis wir Licht in die Angelegenheit gebracht haben? Wäre es nicht falsch, unsere Politik an einem einzigen Vorfall, dessen Ursache wir noch nicht einmal kennen, zu orientieren?«
Dieses Mal antworteten gleich mehrere Stimmen aus beiden Blöcken. Hymes wusste, dass die Fronten zwischen den so genannten Forschern und den selbsternannten Bewahrern verhärtet waren, aber dass sie mit einer solchen Vehemenz reagierten, überraschte auch ihn. Die Diskussion wogte lautstark von einer Seite zur anderen, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Beide Blöcke schienen die Anwesenheit des Fremden nutzen zu wollen, um lange schwelende Streitigkeiten von neuem aufzurollen.
Der Präsident seufzte so leise, dass die Mikrofone das Geräusch nicht wahrnahmen.
Das wird eine Weile dauern, dachte er.
***
Dayna hatte ihr Versprechen gehalten und Matt tatsächlich ein Buch vorbei gebracht, allerdings nicht Robert Louis Stevensons »Dr. Jekyll und Mr. Hyde«, sondern eine illustrierte Geschichte der Washingtoner Bunkergesellschaft.
Er wunderte sich anfangs über den einfachen Stil, in dem das Werk geschrieben war, doch dann entdeckte er eine Zeichnung Washingtons, unter der die Worte
»Mami kann dir sicher sagen, welche Farbe Bäume haben. Vielleicht hilft sie dir beim Ausmalen« standen. Das Buch war offensichtlich Unterrichtslektüre in der Grundschule.
Sehr schmeichelhaft, dachte Matt.
Trotzdem verbrachte er den Tag mit der Geschichte des Bunkers, auch wenn in der kindgerechten Darstellung wenig Interessantes übrig geblieben war. Man musste schon zwischen den Zeilen lesen, um etwas von dem Horror zu erahnen, der sich beispielsweise während der großen Seuche und dem kurzen Bürgerkrieg im 22. Jahrhundert abgespielt hatte.
Matt hätte sich gerne mit jemandem über all das unterhalten, aber den ganzen Tag über wurde die Tür zu seinem Zimmer nur zweimal aufgeschlossen. Beim ersten Mal stellte ein grimmig dreinblickenden schweigender Mann ein Tablett
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