029 - Die neue Macht
betrat.
2117 bis 2165? Oder '66?
Jedes Kind kannte die Daten, aber so sehr er sich auch anstrengte, sie fielen ihm partout nicht ein. Nur die Ereignisse standen klar vor seinem geistigen Auge.
Aus den damaligen Videoaufzeichnungen ging hervor, dass alles ganz harmlos angefangen hatte. Ein unaufmerksamer Techniker, dem ein defekter Luftfilter in der Bunkeranlage entgangen war; einige Menschen, die wenige Stunden später über Halsschmerzen klagten…
Hätte man die Zusammenhänge zu diesem Zeitpunkt begriffen, wäre der Gemeinschaft ein fünfzigjähriger Leidensweg erspart geblieben, doch die Ärzte schlugen erst Alarm, als Menschen mit fiebrig glänzenden Augen blutend in den Korridoren starben.
Doch da war es bereits zu spät.
Zuerst erwischte es die Techniker, die in den Belüftungsschächten arbeiteten, dann die Ärzte, von denen die Erkrankten behandelt wurden, schließlich deren Familien und den gesamten Bunker.
Präsident Miguel Fernandez, der erst 2115 gewählt worden war, starb nur zwölf Tage nach Ausbruch der Seuche und hinterließ eine verängstigte, dem Tode nahe Gemeinschaft. Aus Furcht vor der Seuche zogen sich die Menschen in ihre Wohneinheiten zurück, verbarrikadierten die Türen und kamen erst heraus, wenn Hunger und Durst unerträglich wurden.
Im Capitol, dem einzigen Raum mit ausreichender Größe, stapelte man die Toten. Es war wie eine Metapher für das Versagen der Politik und den Untergang des Staates. Kein Senator wagte sich mehr in den Saal, niemand traf dringend notwendige Entscheidungen. Nur die wenigen nicht erkrankten Ärzte arbeiteten Tag und Nacht auf der Suche nach einer Heilung.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis jemand die Situation erkannte und nach der Macht im Regierungsbunker griff. Dieser Jemand trug den Namen General William Hymes. Keine zwei Monate nach dem Tod des letzten Präsidenten putschte er gemeinsam mit einigen Getreuen. Er stieß kaum auf Gegenwehr.
Victor Hymes hatte zahlreiche Bücher und Aufsätze über seinen berüchtigten Vorfahren gelesen, aber so sehr ihn dessen Gräueltaten an angeblichen Regimegegnern auch schockierten, konnte er ihn doch nicht gänzlich verdammen, denn diese Terror- herrschaft hatte Richard Vaughn hervorgebracht.
Manchmal, dachte Hymes, bedarf es eines großen Gegenpols, um die eigene Stärke zu erkennen.
Er durchquerte den Saal und stieg die Stufen zum Sitz des Präsidenten empor. Jedes Mal, wenn er sich auf dem harten ungepolsterten Stuhl niederließ, lief ihm ein Schauer über den Rücken und er sah die Videoaufnahmen von Vaughns erster Rede vor sich.
Senator Vaughn hatte den Ruf eines ruhigen, fast schon schüchternen Politikers, der in seinem bisherigen Leben nur ein relativ unwichtiges Gesetz zum Vorfahrtsrecht auf Transportbändern durchgesetzt hatte. Wie es ihm gelungen war, nach General Hymes' Putsch in das Capitol einzudringen und den gesamten Saal mit Kameras und Lautsprechern zu vernetzen, war ein Rätsel, mit dem sich Historiker seit Jahrhunderten beschäftigten.
Aber er hatte es geschafft.
Es war gegen Mittag eines weiteren Tages voller Horrormeldungen über noch mehr Seuchenopfer und eine bevorstehende Hungersnot, als die Monitore in allen Wohneinheiten plötzlich flackerten und einen Mann zeigten, der zwischen den Leichen auf den Stufen zum Präsidentensitz saß.
Vaughn sprach weder besonders laut noch leidenschaftlich, aber er bewegte seine Zuhörer und brachte sie dazu, ihm über ihre Kommunikationseinheiten zu antworten. Zum ersten Mal seit Monaten sprachen die Mitglieder der Bunkergemeinschaft über ihre Lage und ihre Ängste - aber auch über ihre Hoffnungen und die Zukunft.
General Hymes war exakt vier Monate, dreizehn Tage und acht Stunden an der Macht, bevor er von seinen 'eigenen Soldaten an der Oberfläche ausgesetzt wurde und starb.
Richard Vaughn wurde zum Präsidenten gewählt und führte die Tradition, allein aus dem Capitol zu sprechen, fort.
Es dauerte rund fünfzig Jahre, bis die Seuche in all ihren Formen und Mutationen besiegt worden war und der Bunker endlich zur Ruhe kam.
Präsident Victor Hymes betrachtete die leeren, im Halbkreis angeordneten Sitze, die ihm zugewandt waren.
Auf jedem standen ein Namensschild, eine Kamera und ein kleiner Lautsprecher. Auch wenn längst keine Leichen mehr im Capitol lagen, blieb der Saal im Gedenken an Richard Vaughns Mut allein dem Präsidenten vorbehalten. Die Senatoren nahmen aus ihren Büros an den Sitzungen teil.
Nur eines hatte sich in den
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