029 - Die neue Macht
Es…«
Die Tür wurde geöffnet. Er unterbrach sich und drehte den Kopf, um zu sehen, wer herein gekommen war.
Dayna stand im Türrahmen.
Matt schluckte, sah zurück zum Fußende des Betts. Es war leer. Der Schlüssel, der eben noch neben ihm gelegen hatte, war verschwunden.
Dafür standen die Soldaten wieder an der Tür. Einer sah Dayna an und legte in einer Geste, die auch nach fünfhundert Jahren ihre Bedeutung nicht verloren, den Finger an seine Stirn.
»Der Europäer dreht durch«, sagte er, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass Matt jedes Wort hören konnte. »Er redet seit ein paar Minuten mit sich selbst.«
»Worüber?«, fragte Dayna.
»Keine Ahnung. Ist keine Sprache, die ich spreche. Ein paar Brocken konnte ich verstehen, mehr aber auch nicht. Irgendwas mit et tu fa tu oder so…«
Matt kämpfte gegen die Panik an, die heiß in ihm aufstieg.
Ich habe in der Sprache der Wandernden Völker gesprochen, dachte er entsetzt. Es war alles Einbildung…
Er glaubte in einen Abgrund zu stürzen.
Dayna runzelte die Stirn. Matthew starrte sie an wie einen Geist. Die Farbe war aus seinem Gesicht gewichen und für einen Moment wirkte er tatsächlich wie ein Wahnsinniger.
Dann fing er sich wieder.
Dayna schickte die beiden Wachen trotz deren Proteste aus dem Raum und setzte sich ans Fußende des Bettes. Sie brauchte Matthew nicht zu drängen, seine Version des Zwischenfalls zu erzählen. So weit sie es beurteilen konnte, ließ er nichts aus. Als er geendet hatte, lehnte er sich gegen die Wand und spielte nervös mit den Bandagen an seinen Knöcheln. In seinen Augen sah Dayna die Angst eines Mannes, der seinem eigenen Verstand nicht mehr traute.
»Sie wissen nicht, ob ich wirklich hier bin, oder?«, fragte Dayna sanft.
Matthew hob die Schulter. »Gestern hätte ich über eine solche Frage noch gelacht, aber heute… Sagen wir es so: Ich hoffe, dass Sie real sind, denn sonst habe ich die ganze Geschichte zweimal umsonst erzählt.«
Sein Lächeln wirkte nicht sehr überzeugend.
Dayna sah ihn an. »Wissen Sie, was ein posttraumatisches Stress-Syndrom ist?«
»Natürlich. In der Air Force war das ein Thema, über das niemand gerne sprach. Ich habe von einem Piloten gehört, dessen Hände nach einem Einsatz nicht mehr aufhörten zu zittern. Er konnte keine Kaffeetasse mehr halten, geschweige denn einen Steuerknüppel.« Matthew stutzte, schien erst jetzt die Bedeutung ihrer Frage zu erkennen. »Sie glauben, das könnte die Ursache für meine Halluzinationen sein?« Er schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Sicherlich gab es im letzten Jahr einige traumatische Momente, aber es war kein Horrortrip, der mich den Verstand gekostet hätte. Und es erklärt auch nicht, warum die Probleme ausgerechnet jetzt auftreten.«
Dayna zögerte. Sie kannte Matthew erst seit einem Tag, deshalb war es nicht leicht, mit ihm über etwas doch sehr Persönliches zu sprechen. Auf der anderen Seite konnte sie ihm vielleicht damit helfen, denn sie wusste, wie er sich fühlte.
»Die Dinge liegen nicht immer an der Oberfläche«, sagte sie schließlich. »Sie sind aus Ihrer vertrauten Welt in etwas Fremdes geschleudert worden, haben Freunde und Familie verloren. Monatelang standen Sie unter Spannung, haben stets mit einer Gefahr gerechnet, und jetzt sind Sie auf einmal in Sicherheit. Die Spannung, die wie ein Deckel auf einem Topf gesessen hat, ist weg, und alles, was in diesem Topf ist, drängt nach draußen. Glauben Sie mir, Matthew, Sie verlieren nicht den Verstand. Sie brauchen nur etwas Zeit, um alles zu verarbeiten.«
Genau wie ich das gebraucht habe, dachte sie.
Der Pilot sah sie schweigend an. Er schien zu spüren, dass sie nicht nur über ihn, sondern auch über sich selbst gesprochen hatte. Wenn er angenommen hatte, sie würde noch mehr erzählen, enttäuschte ihn Dayna, denn sie stand auf und ging zur Tür.
»Ruhen Sie sich aus. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen etwas zum Lesen bringen.«
Matthew nickte. »Ja, am besten ein Buch, das der Situation angemessen ist. Wie wärs mit ›Dr. Jekyll und Mr. Hyde‹?«
Dayna erwiderte sein Lächeln, bevor sie das Zimmer verließ. Ihre Worte hatten Matthew Drax anscheinend aufgeheitert und ein wenig von seiner Sorge abgelenkt. Den Preis, den sie dafür zahlen musste, kannte sie: Eine Nacht voller Albträume…
***
Das Capitol war ein Relikt aus der Zeit der Großen Seuche.
Wann war das noch?, dachte Präsident Victor Hymes, als er den großen leeren Saal
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