03 - Geheimagent Lennet und die Saboteure
dann ,Guten Tag, Madame' oder ,Ich empfehle mich' oder wie...?«
»Man bringt ihr seine Reverenz dar.«
»Weißt du, wie das aussieht?«
»Ja natürlich. Du etwa nicht? Das lernt man doch in der Schule.«
Als der Bus vor den Toren von Schloß Windsor stehenblieb und Clarisse auf einem der Türme eine Fahne flattern sah, glaubte sie, mit Recht behaupten zu können: »Wenige Schritte von Ihnen entfernt, verbringt gerade Ihre Majestät, die Königin, ihr Weekend.«
Lennet und Baby-Chou durchstreiften gemeinsam die Höfe und Säle des Gebäudes. »Unwahrscheinlich, wie groß hier alles ist", bemerkte Baby-Chou.
»Find ich auch", sagte der Geheimagent. »Stell dir mal vor: Ich wohne daheim in einer Zwei-Zimmer-Wohnung mit Papa Martin, Mama Martin und vier Schwestern und Brüdern. Das ist natürlich was anderes als Windsor.«
Baby-Chou zeigte ein verdutztes Gesicht: »Zu sieben in zwei Räumen, sagst du?«
»Ja, ganz recht - in Aubervilliers.«
»Oh, da geht es mir etwas besser. Wir haben zwar auch nur zwei Zimmer, aber zu viert: Papa, Mama, meine ältere Schwester und ich.«
»Und wo wohnt ihr?«
»In Saint-Quen.«
»Sag mal, kann sich das dein Vater leisten, dir eine so teure Reise zu bezahlen? Der ist doch bestimmt nicht reich, oder?«
Baby-Chou wurde plötzlich verlegen und schwieg.
Am frühen Abend, gegen halb sieben, erreichte der Touristenbus wieder die Hauptstadt. Er meisterte die schwierigen Hürden des Stoßverkehrs und landete gut in der Drury Lane. Zum letztenmal stieg die von Miß Barlowe betreute Gruppe aus dem Fahrzeug, und alles verabschiedete sich voneinander.
»Heute abend", sagte Lennet zu Baby-Chou, »lade ich dich zum Essen ein. Einverstanden?«
»Und ob!« erwiderte Pouillot und war von dem Angebot ganz hingerissen. »Wirst du mich auch nicht mit der Rechnung sitzenlassen?«
»Mach dir darüber keine Sorgen! Wart hier, ja? Ich muß nur Miß Barlowe noch etwas sagen und bin gleich wieder da.«
Lennet bahnte sich einen Weg zu Clarisse, die von den Abschiednehmenden dicht umringt war und viele süße Lobesworte quittieren durfte.
»Miß Barlowe!«
»Ja, was ist denn noch, Monsieur Martin?«
Der junge Franzose wollte Clarisse gerade antworten, da sah sich plötzlich alles nach einem Zeitungsverkäufer um!
Der Mann schrie aus vollem Hals die Schlagzeilen der Abendzeitung heraus: »Gewaltige Explosion auf Friedhof bei London! - Attentat auf Grabstätte von Grey! -Schandbomben an geweihtem Ort! - Saboteure ohne Ehrfurcht! - Gewaltige Explosion auf Friedhof bei London!«
Ein Stück Ziegenkäse...
Clarisse und Lennet trafen sich um Mitternacht an der Nelson-Säule. Keiner brauchte zu warten, beide waren gleichzeitig zur Stelle. Die Nacht war milde, und die flimmernden Lichtreklamen erhellten weithin die Straßen.
Clarisse sah abgekämpft aus. Sie hatte ein kleines trauriges Lächeln, als der Franzose auf sie zutrat, und sagte: »Eine Katastrophe, was da passiert ist - noch bescheiden ausgedrückt.
Das Ansehen Englands ist hin, und ich bin ebenso erledigt.«
Die Verzweiflung gab ihr etwas Humoriges, das Lennet bisher noch nie an ihr bemerkt hatte. Man sagt ja oft, der Humor sei der wahre Mut der Engländer...
»Aber Clarisse, was heißt hier ,erledigt'? Sie schauen süß aus, und ein bißchen Traurigkeit paßt zu Ihren lustigen Augen ganz gut. Im übrigen - was das Ansehen Englands betrifft: das war schon angeknackst, als die normannischen Eroberer triumphiert hatten - vor tausend Jahren!«
»Sie haben gut lachen", meinte Clarisse.
»Und nicht ohne Grund, liebe Freundin. Aber nun erzählen Sie mal, was Sie so bedrückt.«
»Sehr einfach zu erklären: Meine Vorgesetzten haben wohl erkannt, daß sie auf mich verzichten können.«
»Soll das heißen, daß man Sie ,gefeuert' hat?«
»Nein - noch nicht. Aber Youyou ist auf der Palme. Das gilt auch für Sie. Er denkt, die Bombe wäre vor unseren Augen gelegt worden, und wir hätten geschlafen. Wörtlich hat er zu mir gesagt: ,Sie taugen genausowenig wie dieser überhebliche kleine Franzose, den ich am liebsten in eine englische Schule stecken würde, um ihn gehörig zu drillen.' "
»Moment mal, Clarisse - Youyou ist ja nicht auf den Kopf gefallen. Er weiß ganz genau, daß die Sprengladung sehr viel früher gelegt worden sein muß - wahrscheinlich mit Zeitzünder oder Fernauslösung.«
»Ich nehme das auch an", sagte Clarisse, »aber denken Sie doch mal, wie ärgerlich die Geschichte ist: Da sind gleich zwei Agenten im Einsatz, und
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von
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