03 Göttlich verliebt
sie die Fotos nie wieder zu Gesicht bekommen würde.
Helen fiel auf, dass Hector und Orion jedes Mal, wenn sie auf eines dieser Dinge von sentimentalem Wert stieß, einen Witz machten oder irgendwie herumalberten, um sie von zu viel Grübelei abzuhalten. Natürlich durchschaute sie diese schwachen Versuche, sie aufzuheitern, aber das machte es noch rührender.
Die beiden wussten, dass es ihr nicht nur darum ging, dass sie einen Haufen alten Kram verlor. Wenn Orion und Hector ihre Show abzogen, konnte sie nicht zu sehr über das nachdenken, was sie wirklich belastete – dass es ihrem Vater immer noch nicht besser ging. Die Fotos, die Makkaroni-Skulptur und die scheußlichen Töpferversuche waren nichts, verglichen mit der Angst, die sie empfand, wenn sie sich vorstellte, wie ihr Vater bewusstlos im Bett lag. Wieso wachte er nicht auf?
Sie wollte etwas zu Hector und Orion sagen, ihnen dafür danken, dass sie ihr durch diese schwierige Situation hindurchhalfen, aber sie kannte sie gut genug, um den Mund zu halten. Hector würde sie nur aufziehen, wenn sie plötzlich so ernst wurde, und Orion wusste längst, wie dankbar sie war, weil er buchstäblich in ihr Innerstes sehen konnte. Also speicherte Helen die Stunden, die sie damit verbrachten, durch die Überreste ihrer Kindheit zu stöbern, einfach in ihrem Gehirn ab, weil sie wusste, dass sie den beiden ohnehin nie vergelten konnte, was sie für sie taten.
»Fertig … Hector wird den Truck zurückfahren«, sagte Orion und riss Helen damit aus ihren trüben Gedanken. »Ohne uns.«
»Was?«, erwiderte Helen verständnislos. »Nein. Hector sollte nicht fahren. Er darf sich nicht blicken lassen.«
»Mich sieht schon keiner. Es ist ja längst dunkel. Da erkennt mich niemand«, beruhigte Hector sie. »Außerdem kann ich meinen Umriss ein bisschen verschwimmen lassen, wenn mir ein anderes Auto entgegenkommt – was vermutlich nicht passieren wird.«
Helen sah sich um und stellte fest, dass er recht hatte. Ihr war gar nicht aufgefallen, dass die Sonne inzwischen untergegangen war. Es war dunkel und kein Mensch mehr unterwegs. Seit den Krawallen verließ kaum noch jemand sein Haus. Nantucket erinnerte schon seit Tagen an eine Geisterstadt.
»Okay, ich schätze, du hast recht. Danke fürs Helfen«, sagte Helen zu Hector und drückte ihn kurz an sich. Sie bremste sich jedoch noch rechtzeitig, bevor sie zu rührselig wurde und etwas sagte, das er als unverzeihlich sentimental empfand.
»Amüsier dich, Prinzessin«, sagte Hector ungewöhnlich sanft, als er sie losließ. Er sah Orion an, nickte ihm zu und verschwand, ohne einen Witz zu reißen oder eine anzügliche Bemerkung zu machen.
Helen griff schüchtern nach Orions Hand. Ihr war klar, dass Hector ihnen gerade einen ähnlichen Vertrauensbeweis geschenkt hatte wie Hergie damals mit seinem Freistundenpass. Was auch immer sie und Orion in dieser Nacht taten, Hector würde sie deswegen ganz sicher nicht nachsitzen lassen.
»Und nun?«, sagte Helen und schaute zu Orion auf. Ihre Kehle war plötzlich ganz trocken und sie musste schlucken. »Du hast gesagt, dass du mir etwas zeigen willst?«
»Stimmt«, bestätigte er, doch er nagte dabei an seiner Unterlippe, als bedauerte er diese Einladung bereits. »Aber du hattest einen harten Tag. Und was ich dir zeigen will, sorgt nicht gerade für gute Laune.«
»Also, jetzt musst du es mir unbedingt zeigen«, sagte Helen und deutete mit einer dramatischen Armbewegung auf den gesamten Laden. »Wieso soll ich die Einzige sein, deren Leben gerade total mies ist?«
Orion musste lachen. Er zog Helen an sich und drückte sie fest an seine Brust. Doch sein Lachen verstummte schnell wieder. Er küsste sie auf die Schläfe und strich zart mit den Lippen über ihre Augenbraue. Helen hatte den Verdacht, dass er sie aus zweierlei Gründen an sich gezogen hatte. Der erste war, dass er sie einfach nur in den Arm nehmen wollte, aber der zweite und wichtigere Grund war vermutlich, dass sie nicht sehen sollte, was in seinem Herzen vor sich ging.
»Vertrau mir. Du bist nicht die Einzige, deren Leben gerade total mies ist«, murmelte er betreten.
»Dann zeig es mir.« Helen lehnte sich zurück und sah ihm in die Augen. »Wir sind zusammen durch die Hölle gegangen, Orion. Was könnte schlimmer sein als das?«
Orions Lippen verzogen sich zu einem gequälten Lächeln. »Familie«, sagte er. Helen musste daran denken, wie traurig Orion immer war, wenn jemand seinen Vater erwähnte. Sie wusste,
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