03 Göttlich verliebt
sie es sonst immer tat, wenn er in eine seiner melancholischen Stimmungen fiel. Stattdessen konzentrierte sie sich darauf, so schnell zu fliegen, wie sie es mit einem Passagier wagte.
Nach nur wenigen Minuten und einigen Kurskorrekturen durch Orion schwebten sie über einer Felsklippe, die in den schäumenden, eiskalten Atlantik ragte.
Auf der Spitze der hohen, schmalen Landzunge stand ein winziges, nahezu fensterloses Häuschen. Es war dunkelste Nacht. Vom Meer zog Nebel heran und dämpfte das Mondlicht. Nur bei genauem Hinsehen war zu erkennen, dass in dem Haus ein einziges Licht brannte.
Orion seufzte abgrundtief und nickte, als würde er die Verantwortung für einen unglückseligen Akt mutwilliger Zerstörung übernehmen. »Das ist es. Da leben meine Eltern.«
»Deine Eltern?«, wiederholte Helen verwirrt. »Ich dachte, deine Mutter wäre tot. Hat dein Vater wieder geheiratet?«
»Du wirst es sehen«, sagte er nur und schüttelte den Kopf.
Orion wies sie an, außerhalb des Lichtscheins zu landen, der durch das eine Fenster im Erdgeschoss fiel.
Helen, die darauf achtete, im Schatten zu bleiben, spähte hinein. Das Erste, was sie sah, war ein großer Mann, der in einem Sessel saß und ein Buch las. Er trug verwaschene Jeans und ein enges T-Shirt und seine schwarzen Haare wurden an den Schläfen bereits silbergrau. Er war schon älter, vielleicht Mitte vierzig, sah aber trotzdem gut aus und wirkte unglaublich durchtrainiert. Sein markantes Gesicht und seine gebräunte Haut erinnerten sie an Lucas. Sogar die Form seiner Hand, mit der er das Buch hielt, war erschreckend vertraut. Es verunsicherte Helen, diesen anderen, älteren Mann mit Lucas’ Händen zu sehen.
Helen hatte von der Familie schon öfter gehört, dass Lucas aussah wie ein Sohn von Poseidon. Und wegen dieser erstaunlichen Ähnlichkeit wusste Helen, dass sie gerade Daedalus betrachtete, den Anführer des Hauses von Athen, einen direkten Nachfahren von Poseidon und Orions Vater.
Das Zweite, was Helen sah, war ihre eigene Mutter, Daphne, die ihm gegenüber auf der Couch lag und schlief.
6
H elens Kehle war plötzlich wie zugeschnürt und sie taumelte geschockt rückwärts über den unebenen Boden. Orion griff nach ihr, doch sie wehrte seine Hände blindlings ab. Aber davon ließ sich Orion nicht abschrecken. Er packte sie und presste ihr eine Hand auf den Mund.
»Reg dich ab! Es ist nicht, was du denkst«, zischte er ihr ins Ohr.
Er führte sie vom Haus weg bis ans Ende der Klippe.
»Daphne hilft meinem Vater, meine Mutter zu bändigen, wenn sie einen ihrer Anfälle hat. Und vermutlich hatte sie heute einen, weil mein Dad zum Treffen der Häuser gehen muss. Meine Mutter hasst alle Häuser, sogar ihr eigenes.« Er verstummte mitten in seiner hektischen Erklärung, um sich zu vergewissern, dass Helen ihm zuhörte. »Es herrschte Krieg unter den Scions, bevor wir geboren wurden«, sagte er.
Immer noch mit Orions Hand vor dem Mund nickte Helen, sowohl um ihm mitzuteilen, dass sie über den Krieg Bescheid wusste, aber auch, um ihm zu versichern, dass sie weder ins Haus stürmen noch losschreien würde. Er nahm die Hand weg, behielt Helen aber trotzdem dicht bei sich. Helen wusste, dass es vor rund zwanzig Jahren eine Art endgültigen Entscheidungskampf zwischen den Häusern gegeben hatte und dass dabei Ströme von Blut geflossen waren. Es war das Ende der Zeiten gewesen – zumindest hatten alle Beteiligten es so empfunden.
»Meine Mutter war Anführerin des Hauses von Rom und hat einen Haufen Leute umgebracht. Der Krieg hat sie wirklich fertiggemacht. Und jetzt kann sie nicht gut damit umgehen, wenn jemand die Häuser erwähnt«, versuchte Orion zu erklären, doch er konnte nicht weitersprechen und musste die Zähne zusammenbeißen, um seine Stimme unter Kontrolle zu behalten. »Genau gesagt, kann sie mit nichts besonders gut umgehen. Sie ist krank, Helen.«
Helen wusste, dass Scions nur auf eine einzige Art krank werden konnten. Orion versuchte, ihr so taktvoll wie möglich beizubringen, dass seine Mutter Leda geisteskrank war.
Angesichts der Tatsache, dass Daedalus Daphnes Hilfe brauchte, um Leda zu bändigen, war Orions Mutter offenbar nicht nur sehr stark, sondern litt auch unter einer Form des Wahnsinns, der sie für andere Menschen gefährlich machte. Das Haus, in dem sie lebten, war kilometerweit von allen anderen entfernt, so weit weg von der Zivilisation, wie es nur ging. Helen konnte nur ahnen, wie viel Geschrei mit den
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