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03_Im Brunnen der Manuskripte

03_Im Brunnen der Manuskripte

Titel: 03_Im Brunnen der Manuskripte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jasper Fforde
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einmal so viele
    Geschichten gebraucht werden würden. Noch im zehnten
    Jahrhundert war die Nachfrage so gering, dass wir immer noch
    genug Stoff für zwei Jahrtausende hatten. Als das siebzehnte
    Jahrhundert kam, hatten sich die Vorräte allerdings schon auf
    den Bedarf von zwölfhundert Jahren verringert, was allerdings
    immer noch niemanden wirklich beunruhigte. Dann allerdings
    geschah etwas, was alle Berechnungen über den Haufen warf.«
    »Das Ende des Analphabetismus«, sagte Miss Havisham.
    »Genau«, sagte Libris. »Der Erfolg unseres Betriebssystems
    und die Einführung öffentlicher Schulen wurden uns zum
    Verhängnis. Zehn Jahre vor der Veröffentlichung des Romans
    Pamela im Jahre 1740 hatten wir noch genügend neue Ideen für
    sechshundert Jahre; aber schon zur Zeit von Jane Austen waren
    die Vorräte auf hundertzwanzig gesunken. Zur Zeit von Dickens wurden praktisch alle Ideen nur noch recycelt, eine
    Technik, die wir schon seit dem 13. Jahrhundert eingesetzt
    hatten, um das Unvermeidliche so lange wie möglich aufzuschieben. Aber im Jahre 1884 mussten wir einsehen, dass wir de
    facto unseren Bestand an neuen Ideen vollständig aufgebraucht
    hatten.« Es gab ein kollektives Aufstöhnen unter den Anwesenden.
    »Flatland«, sagte Bradshaw nach einer Pause. »Das war die
    letzte originelle Idee, nicht wahr?«
    »So ungefähr. Die letzten übrig gebliebenen Stücke wurden
    bis 1950 von der Science-Fiction-Bewegung aufgesammelt, aber
    was unvermischte neue Ideen angeht, war 1884 das Ende. Wir
    erwarteten schon das Schlimmste, einen Zusammenbruch der
    gesamten BuchWelt und ein komplettes Verschwinden der
    Leser. Aber das geschah nicht. Entgegen allen Erwartungen
    funktionierten die recycelten Ideen ganz ausgezeichnet.«
    »Kommt es denn nicht überhaupt darauf an, wie eine Geschichte erzählt wird?« fragte Miss Havisham in ihrem besten
    Bitte-keinen-Widerspruch-Tonfall. »Die Varianten, wie man
    eine Geschichte erzählt, sind doch zweifellos endlos!«
    »Mit Sicherheit zahlreich, aber nicht endlos, Miss Havisham.
    Womit ich sagen will, wenn die verschiedenen Erzählweisen
    mal aufgebraucht sind, dann sind wir wirklich am Ende. Das
    zwanzigste Jahrhundert hat eine ungeheure Beschleunigung der
    Buchproduktion mit sich gebracht. Die Zahl der geschriebenen
    und veröffentlichten Bücher ist in unglaublicher Weise gestiegen. Selbst der VerunsicherungsVirus 1.3 und WritersBlock 2.4,
    die beide aus dem Außenland stammen, konnten die Autoren
    nicht bremsen. Plagiatsprozesse im Außenland nehmen zu;
    manchmal schreiben die Autoren vollkommen identische
    Bücher fast gleichzeitig. Meiner durchaus konservativen Einschätzung nach bleiben uns noch höchstens ein oder anderthalb
    Jahre, ehe der Brunnen der Fiktion versiegt.«
    Er machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen.
    »Deshalb mussten wir zurück in die Planungsabteilung und
    haben das ganze System überdacht.«
    Er flippte erneut seinen FlippChart, und in der Versammlung ertönte bewunderndes Ah! und Oh!. Auf der obersten Seite
    stand 32-Plott-System.
    »Wie Sie wissen«, sagte er, »wird das Zentrum jedes literarischen Betriebssystems von jenen acht Handlungsverläufen
    gebildet, die wir aus der mündlichen Tradition übernommen
    haben. Wie wir immer gesagt haben: ›Mehr als acht Stoffe
    werden wir niemals brauchen.‹«
    »Wenn man Coming of Age dazurechnet, sind's aber neun«,
    sagte Beatrice.
    »Ist das keine Entdeckungsreise?« fragte Tweed.
    »Was soll dann Macbeth sein?« fragte Benedict.
    »Rivalität und Rache, mein Lieber«, sagte Miss Havisham.
    »Und ich dachte immer, es wäre Versuchung«, widersprach
    Beatrice.
    »Bitte!« rief der Protokollführer. »Darüber kann man nächtelang streiten. Dazu ist immer noch Zeit, wenn uns Meister
    Libris alles erklärt hat. Wollen Sie ihn nicht erst einmal ausreden lassen?«
    Die Agenten beruhigten sich. Ich vermutete, dass es sich um
    eine Art Dauerstreit handelte.
    »Der einzige Ausweg«, fuhr Libris in seinem Vortrag fort,
    »bestand demnach darin, das Betriebssystem auf eine neue Basis
    zu stellen. Wenn man statt der bisherigen acht etwa zweiunddreißig Grundmotive für die Literatur hätte, ließen sich durch
    entsprechende Kombination mehr verschiedene Handlungsverläufe her stellen, als Sie oder ich jemals brauchen. Für die
    BuchWelt wäre das der größte Fortschritt seit der Erfindung der
    beweglichen Lettern.«
    »Ich bin sehr für den Fortschritt und neue Technologien,
    Meister Libris«,

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