03_Im Brunnen der Manuskripte
jemand in einem Buch krank
wurde, dann war es immer gleich tödlich oder zumindest lebensbedrohlich.
Dass ich überhaupt in einem Buch wohnen konnte, verdankte ich dem FigurenAustauschProgramm. Um zu verhindern,
dass immer mehr gelangweilte Romanfiguren aus ihren Büchern ausbrachen und zu sogenannten Seitenläufern wurden,
hatten die zuständigen Stellen ein Programm eingerichtet, das
Buchmenschen einen gelegentlichen Tapetenwechsel erlaubte.
Jedes Jahr gibt es etwa zehntausend Figuren, die nicht in ihrem
ursprünglichen Werk wohnen – was die Handlung und die
Dialoge meist gar nicht beeinträchtigt – die Leser merken in der
Regel nicht das Geringste. Obwohl ich aus der wirklichen Welt
stammte und eigentlich gar keine Romanfigur war, hatten der
Protokollführer und Miss Havisham mir aufgrund meiner
Tätigkeit bei Jurisfiktion gestattet, für die Dauer meiner
Schwangerschaft in der BuchWelt zu leben, wo ich vor meinen
Widersachern geschützt war.
Das Buch für mein selbstgewähltes Exil hatte ich mit Bedacht
ausgesucht. Als mich Miss Havisham fragte, in welchem Roman
ich mich aufhalten wolle, hatte ich lange nachgedacht. Robinson
Crusoe wäre rein klimatisch ideal gewesen, aber dort gab es kein
weibliches Wesen, mit dem ich mich hätte austauschen können.
Ich hätte auch in Stolz und Vorurteil wohnen können, aber ich
war nicht gerade scharf auf bebänderte Hauben, geschnürte
Korsetts und delikate Manieren. Nein, um die Wahrscheinlichkeit zu vermindern, dass ich womöglich umziehen musste,
schien es mir unumgänglich, ein Werk von so zweifelhafter
Qualität zu finden, dass eine Veröffentlichung höchst unwahrscheinlich erschien. Ich fand dieses Werk tief unten im Brunnen
der Manuskripte unter anderen gescheiterten Projekten und
halbfertigen Texten von so erschütternder Unbeholfenheit, dass
sie gewiss nie ans Licht der Öffentlichkeit kommen würden. Es
handelte sich um einen drögen, in Reading angesiedelten Krimi
mit dem Titel Caversham Heights. Eigentlich wollte ich dort nur
ein Jahr bleiben, aber es kam alles ganz anders. Meine Pläne
sind immer ein bisschen wie die Romane von Millon de Floss –
man weiß nie genau, wie sie ausgehen.
Ich las mich in aller Ruhe in Caversham Heights ein. Ich befand
mich am Ufer eines kleinen Sees in der Nähe von London. Es
war Sommer, und nach den winterlichen Wetterbedingungen
zu Hause roch die Luft süß und warm. Ich stand auf einem
breiten, hölzernen Landesteg vor einem großen, altertümlichen
Flugboot, wie sie bei uns noch gelegentlich auf den Küstenstre-cken eingesetzt werden. Erst vor einigen Monaten war ich selbst
noch in so einer Kiste geflogen, als ich jemanden aufsuchen
sollte, der behauptete, einige unveröffentlichte Burns-Gedichte
gefunden zu haben. Aber das war in einem anderen Leben, als
ich noch für SpecOps in Swindon arbeitete, in einer Welt, die
ich fürs Erste hinter mir gelassen hatte.
Ich setzte eine dunkle Sonnenbrille auf und betrachtete das
Flugboot, das leicht im Wellengang schaukelte und an den
Haltleinen zog. Ich fragte mich gerade, wie lange es der alte
Kahn wohl noch machen würde, als eine junge Frau mit einem
Reisekoffer aus der Kabinentür trat. Ich hatte Caversham
Heights bereits einmal kurz überflogen, daher kannte ich Mary
schon.
»Guten Tag!« sagte sie, kam die Gangway herauf und schüttelte mir die Hand. »Ich bin Mary. Sie sind wahrscheinlich
Thursday, nicht wahr? Ach, du meine Güte, was ist denn das?«
»Ein Dodo. Ihr Name ist Pickwick.«
Pickwick plockte und starrte Mary misstrauisch an.
»Wirklich?« sagte Mary. »Ich bin natürlich keine Expertin,
aber … ich dachte, Dodos wären ausgestorben?«
»Da, wo ich herkomme, sind sie als Haustiere ziemlich beliebt. Fast schon ein bisschen lästig.«
»Ach. Von einem Buch mit lebendigen Dodos drin hab' ich
noch nie gehört, glaub' ich.«
»Ich bin auch keine Romanfigur«, sagte ich, »sondern wirklich.«
»Ach!« sagte Mary mit weit aufgerissenen Augen. »Eine Außenländerin.« Sie berührte mich neugierig mit ihrem schlanken
Zeigefinger. »Ich habe noch nie mit jemandem von der anderen
Seite zu tun gehabt«, sagte sie und schien erleichtert, als ich bei
der Berührung nicht in tausend Stücke zersprang. »Sagen Sie,
stimmt das eigentlich, dass Sie sich regelmäßig die Haare
schneiden müssen? Ich meine, wachsen Ihre Haare tatsächlich?«
»Ja«, lächelte ich. »Und meine Fingernägel auch.«
»Wirklich?«
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