03_Im Brunnen der Manuskripte
Betreuer jede Woche zu
wechseln ist nicht gut. Jeder muss seinen Dienst tun, auch Sie,
Miss Havisham.«
Sie seufzte. »Sehr wohl.«
»Gut! Lassen Sie Ihre Schützlinge nicht warten.« Der Protokollführer zog sich hastig zurück, und Miss Havisham stand
einen Augenblick da wie ein Vulkan, der nicht weiß, ob er
ausbrechen soll.
Nach ein, zwei Sekunden flackerten ihre Augen zu mir. »Hab
ich dich etwa grinsen sehen?«
»Aber nein, Ma'am«, sagte ich und versuchte, mein Amüsement zu verbergen. Dass ausgerechnet Miss Havisham irgendjemand beibringen sollte, wie man seine Wut kontrolliert, war
schon ziemlich komisch.
»Könntest du mir bitte sagen, was du so komisch findest? Ich
würde es wirklich gern wissen.«
»Es war ein … überraschtes Lächeln«, sagte ich vorsichtig.
»Ach, wirklich? Also, ehe du dir einbildest, die verkorksten
Gefühle dieser bekloppten Figuren würden mich irgendwie
interessieren, möchte ich klarstellen, dass ich dienstlich beauftragt wurde, diesen Psychoquatsch durchzuführen. Ich bin ja
auch zum PersonenSchutz für Heathcliff abgestellt worden und
musste dem Befehl folgen, obwohl ich ihn lieber persönlich
umgebracht hätte. Jetzt hol mir meinen Tee und bring ihn mir
an den Tisch.«
Unter den übrigen Agenten wurde aufgeregt über UltraWord™ diskutiert, und die Meinungen reichten von entschiedener Ablehnung bis zu begeisterter Zustimmung. Von Bedeutung war allerdings weder das eine noch das andere. Jurisfiktion
war ein Instrument der Exekutive und hatte keinerlei Einfluss
auf die Gesetzgebung – das war Sache des GattungsRats. Am
Büffet stieß ich auf Vernham Deane.
»Nun«, sagte er und nahm sich ein Käsehäppchen, »was meinen Sie?«
»Bradshaw und Falstaff schienen ziemlich beunruhigt.«
»Vorsicht wird oft unterschätzt«, sagte Vernham. »Was
meint denn Miss Havisham?«
»Ich weiß nicht.«
»Vern!« sagte Beatrice, die gerade mit Lady Cavendish an
den Tisch trat. »Was hat Pu, der Bär, noch einmal für ein
Grundmotiv?«
»Der Triumph des Schwächeren?« sagte er.
»Ich hab's Ihnen doch gesagt!« erklärte Beatrice und wandte
sich Lady Cavendish zu. »Ein Bär von kleinem Verstand besiegt
alle Widrigkeiten. Sind Sie jetzt zufrieden?«
»Nein«, sagte Cavendish. »Es ist eine Entdeckungsreise durch
und durch.«
»Sie halten jede Geschichte für eine Entdeckungsreise!«
»Aber so ist es doch auch.«
Sie stritten sich immer noch, als ich eine Tasse auf die Untertasse stellte und nach der Teekanne griff.
»Haben Sie Mrs Bradshaw schon kennen gelernt?« fragte
Deane.
»Nein«, sagte ich und stellte die Teekanne wieder weg, denn
mir war gerade eingefallen, dass ich die Milch zuerst eingießen
musste.
»Bitte lachen Sie nicht, wenn sie Ihnen vorgestellt wird.«
»Warum nicht?«
»Ach, Sie werden schon sehen.«
Ich griff erneut nach der Kanne und schenkte den Tee ein.
Deane verspeiste ein weiteres Käsehäppchen und fragte:
»Wie geht's Ihnen so? Das letzte Mal, als wir gesprochen haben,
hatten Sie ein paar Probleme im Außenland, nicht wahr?«
»Ich nehme jetzt am FigurenAustauschProgramm teil und
wohne derzeit im Brunnen.«
»Wirklich? Na, das ist ja toll. Wie geht es denn mit der neuesten Farquitt voran?«
»Also ich glaube«, sagte ich vorsichtig, um seine Gefühle
nicht zu verletzen, »der Arbeitstitel ist Schamlose Liebe.«
»Klingt wie ein echter Farquitt-Roman«, seufzte Deane.
»Wahrscheinlich gibt es eine niedliche Unschuld vom Lande,
die von einem Schurken wie mir geschwängert und dann aus
dem Haus gejagt wird und sich zehn Kapitel später fürchterlich
rächt.«
»Ja, also –«, sagte ich.
»Wissen Sie, es ist einfach nicht fair!« sagte er, plötzlich voller Empörung. »Warum muss ich mich immer und immer
wieder acht Seiten vor Schluss einsam und depressiv zu Tode
saufen?«
»Vielleicht weil Sie der Bösewicht sind, und die Bösewichter
in den Farquitt-Romanen grundsätzlich immer bestraft werden?«
»Es ist trotzdem nicht fair.« Er verzog das Gesicht. »Ich habe
schon so oft um eine Interne HandlungsAnpassung gebeten.
Über hundert Anträge hab' ich gestellt, aber sie sind alle abgelehnt worden. Könnten Sie nicht mal mit Miss Havisham reden? Ich habe gehört, dass der GattungsRat sie in den HandlungsAnpassungs-Ausschuss gewählt hat.«
»Wäre das denn korrekt, wenn ich mit ihr rede?«
»Na ja, nicht ganz«, gab er zu. »Aber inzwischen bin ich so
verzweifelt … Bitte versuchen Sie's
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