03_Im Brunnen der Manuskripte
die anderen
kennen lernen. Bei den Wutberatungs-Sitzungen müssen alle
wichtigen Figuren des Romans anwesend sein.«
Es gab keine Eingangshalle und keinen Flur. Die Haustür
öffnete sich direkt in ein großes Familien-Wohnzimmer, in
dem sich sieben Personen vor dem Kamin drängten. Einer der
Männer erhob sich und neigte höflich den Kopf, um uns zu
begrüßen. Wie ich später erfuhr, war das Edgar Linton, der
Ehemann von Catherine Earnshaw, die neben ihm auf einer
hölzernen Bank saß und nachdenklich ins Feuer starrte.
Daneben hockte ein zügellos aussehender Mann, der zu schlafen schien oder betrunken war, oder vielleicht beides gleichzeitig. Es war offensichtlich, dass wir erwartet wurden, und ebenso
offensichtlich, dass die Anwesenden an der Therapiesitzung
nicht sonderlich interessiert waren.
»Guten Abend zusammen«, sagte Miss Havisham. »Ich
möchte Ihnen allen danken, dass Sie zu dieser JurisfiktionWutberatungs-Sitzung gekommen sind.«
Sie klang beinahe freundlich. Es passte überhaupt nicht zu
ihr, und ich fragte mich, wie lange sie das wohl durchhalten
würde.
»Als erstes möchte ich Ihnen Miss Next vorstellen, die an
unserer Sitzung als Beobachterin teilnimmt. Ich möchte Sie alle
bitten, Ihrem jeweiligen Nachbarn die rechte oder linke Hand
zu geben und einen Kreis des Vertrauens zu bilden, um sie in
der Gruppe willkommen zu heißen. Wo ist Heathcliff?«
»Keine Ahnung, wo der Schuft sein könnte!« erklärte Linton
wütend. »Am besten mit den Gesicht nach unten im Sumpf,
wenn es nach mir geht. Der Teufel soll ihn holen, es wäre keine
Minute zu früh!«
»Ach!« rief Catherine und entzog Edgar sogleich ihre Hand.
»Warum hasst du ihn nur so? Ihn, der mich mehr geliebt hat,
als du jemals könntest!«
»Aber nicht doch«, sagte Miss Havisham. »Erinnern Sie sich
nicht, was wir letztes Mal über Schimpfworte gesagt haben?
Edgar, ich glaube, Sie sollten sich bei Catherine entschuldigen,
dass Sie Heathcliff einen Schurken genannt haben. Und Catherine? Haben Sie nicht letzte Woche versprochen, Ihrem Ehemann gegenüber nicht mehr zu erwähnen, wie sehr Sie in
Heathcliff verliebt waren?«
Die beiden murmelten widerwillig ihre Entschuldigungen.
»Heathcliff kommt jeden Moment«, sagte eine weitere Dienerin, bei der es sich wohl um Nelly Dean handelte. »Sein Agent
hat gesagt, er müsse nur noch ein Interview geben. Können wir
nicht ohne ihn anfangen?«
Miss Havisham sah auf die Uhr. »Wir könnten vielleicht die
Vorstellung hinter uns bringen«, sagte sie. Offenbar wollte sie
auch lieber nach Hause. »Vielleicht könnten wir uns alle vorstellen, damit Miss Next uns und unsere Gefühle kennen lernt.
Edgar, könnten Sie vielleicht anfangen?«
»Ich? Ach, na gut. Mein Name ist Edgar Linton, ich bin der
wahre Eigentümer von Thrushcross Grange, und ich hasse und
verachte Heathcliff, weil meine Frau Catherine ihn trotz aller
meiner Bemühungen immer noch liebt.«
»Mein Name ist Hindley Earnshaw«, lallte der Betrunkene.
»Ich bin der älteste Sohn des alten Mr Earnshaw. Ich hasse und
verachte Heathcliff, weil mein Vater ihn stets vorgezogen hat,
obwohl er bloß adoptiert war, und weil der Schuft mich um
mein Erstgeburtsrecht gebracht hat.«
»Das war schon sehr gut, Hindley«, sagte Miss Havisham,
»kein einziger Fluch. Ich finde, wir machen Fortschritte. Wer ist
der Nächste?«
»Ich bin Hareton Earnshaw«, sagte ein übellauniger junger
Mann. Er starrte bewegungslos auf den Tisch und verabscheute
die Veranstaltung offenbar noch mehr als die anderen. »Ich bin
der Sohn von Hindley und Frances. Ich hasse und verachte
Heathcliff, weil er mich wie einen Hund behandelt. Dabei hab'
ich ihm überhaupt nichts getan. Es ist bloß, weil mein Vater ihn
wie einen Dienstboten behandelt hat.«
»Ich bin Isabella«, erklärte eine gut aussehende Frau. »Ich bin
die Schwester von Edgar. Ich hasse und verachte Heathcliff, weil
er mich angelogen, beschimpft und geschlagen hat. Er hat sogar
versucht, mich zu töten. Dann, nach meinem Tod, hat er unseren gemeinsamen Sohn benutzt, um das Erbe der Lintons an
sich zu reißen.«
»In der steckt eine Menge Wut«, flüsterte Miss Havisham
mir zu. »Erkennst du das Grundmuster in dieser Gruppe?«
»Dass sie alle Heathcliff hassen?« flüsterte ich zurück.
»Ach?« sagte sie betrübt. »Merkt man das so deutlich?« Sie
war offensichtlich enttäuscht, dass ihre Therapie so wenig
Erfolg zeigte.
Jetzt meldete sich ein
Weitere Kostenlose Bücher