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03_Im Brunnen der Manuskripte

03_Im Brunnen der Manuskripte

Titel: 03_Im Brunnen der Manuskripte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jasper Fforde
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lebte Mary allein. Während ich mich leise die Treppe hinunterbewegte, hörte ich eine
    zweite, praktisch identische Stimme: »Ich glaube, irgendein
    Vogel.«
    Die zweite Stimme war genauso farblos wie die erste, und
    wenn sie nicht geantwortet hätte, hätte ich wahrscheinlich
    gedacht, dass sie derselben Person gehörte.
    Als ich weit genug unten war, sah ich zwei Gestalten in der
    Mitte des Raumes, die Pickwick anstarrten, die hinter dem Sofa
    hockte und tapfer zurückstarrte, um ihr Ei zu beschützen.
    »He!« sagte ich und hob meine Pistole. »Keine Bewegung!«
    Die beiden Gestalten hoben die Köpfe und sahen mich ausdruckslos an. Ihre Gesichter waren genauso wenig unterscheidbar wie ihre Stimmen. Ihre Arme hingen ohne Körpersprache
    an ihnen herunter. Ob sie neugierig, ärgerlich oder besorgt
    waren, hätte ich nicht zu sagen gewusst.
    »Wer seid ihr?« fragte ich.
    »Wir sind niemand«, sagte der Linke.
    »Jeder ist irgendwer«, sagte ich.
    »Das ist nicht ganz richtig«, sagte der Rechte. »Wir haben
    eine Codenummer, aber sonst nichts weiter. Ich bin TSI1404912-A, und das ist TSI-1404912-C.«
    »Aha. Und was ist mit Nummer B passiert?«
    »Die wurde am Dienstag von Grammasiten gefressen.«
    Ich senkte meine Pistole. Was ich da vor mir hatte, waren
    Figuren-Rohlinge. Miss Havisham hatte mir davon erzählt. Die
    Rohlinge wurden hier im Brunnen der Manuskripte erzeugt,
    um die Bücher zu bevölkern, die gerade entstanden. Im Augenblick ihrer Entstehung waren sie lediglich menschliche Leinwände – ungeprägte Münzen gewissermaßen, die ihren Wert
    und ihre Individualität erst später erhielten. Sie hatten keine
    Geschichte, keine Schwächen und keine Konflikte oder Probleme. Es gab nichts, was sie irgendwie interessant machte. Um sie
    zu nützlichen Mitgliedern der BuchWelt zu machen, bedurfte es
    verschiedener Institutionen. Sie waren allerdings von vornherein klassifiziert. Von A bis D, und von eins bis zehn. Rohlinge
    der Klasse D wurden normalerweise nur für Menschenmengen
    und stumme Passanten gebraucht. Die Klasse C erhielt schon
    mal kleinere Sprechrollen, während die Nebenrollen aus der
    Klasse B besetzt wurden. Hauptrollen gingen grundsätzlich nur
    an die A-Klasse. Diese Rohlinge waren handverlesen und hinsichtlich ihrer Vielschichtigkeit und ihrer Tragfähigkeit für
    besondere Charaktereigenschaften geprüft. Huckleberry Finn,
    Tess d'Urberville, Anna Karenina und Oskar Matzerath gehörten alle zur Klasse A, aber natürlich auch Franz Moor, Mr Hyde
    und Hannibal Lecter. Ich betrachtete die Rohlinge erneut.
    Waren sie Helden oder Mörder? Es war noch völlig offen, was
    aus ihnen werden würde, und im jetzigen Stadium ihrer Entwicklung waren sie harmlos. Ich steckte meine Knarre weg.
    »Ihr seid Rohlinge, stimmt's?«
    »Genau«, sagten sie unisono.
    »Was macht ihr denn hier?«
    »Erinnern Sie sich noch an den Minimalismus?«
    »Ja?« sagte ich und trat etwas näher heran, um ihre leeren
    Gesichter genauer studieren zu können. Es gab noch eine
    Menge, was ich über den Brunnen der Manuskripte nicht
    wusste. Sie waren zwar harmlos, aber doch ziemlich unheimlich. Pickwick versteckte sich immer noch hinter dem Sofa.
    »Der wurde durch die große Lieferkrise der frühen Sechziger
    ausgelöst, als diese voluminösen Romane erschienen«, sagte der
    Linke. »Jetzt heißt es, ein gewisser Vikram Seth plant einen
    neuen, umfangreichen Roman, und ich glaube, der GattungsRat
    möchte nicht, dass die Figuren plötzlich wieder so knapp werden wie damals. Deshalb werden wir jetzt auf Vorrat produziert
    und dann in unveröffentlichte Romane geschickt, bis wir in
    Dienst gestellt werden.«
    »Eine Art Zwischenlager, gewissermaßen?«
    »Also ich persönlich bevorzuge das Wort Einquartierung«,
    sagte der Linke, und der leicht empörte Unterton in seiner
    Stimme deutete darauf hin, dass er nicht auf Dauer ohne Persönlichkeit bleiben würde.
    »Wie lange seid ihr denn schon hier?« fragte ich.
    »Seit zwei Monaten«, sagte der Rechte. »Wir warten auf einen Studienplatz am St. Tabularasa's Generic College. Dort
    erfolgt das Charaktergrundstudium. Ich wohne im Gästezimmer im Heck.«
    »Ich auch«, sagte der Linke.
    Das verblüffte mich denn doch für eine Sekunde. »O-kay«,
    sagte ich schließlich. »Da wir offenbar alle im selben Boot leben
    müssen, gebe ich euch vielleicht besser Namen. Du«, sagte ich
    und zeigte auf den Rechten, »heißt künftig ibb. Und du« – dabei
    zeigte ich auf den anderen –

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